Die Wochenzeitung „Freitag“ eröffnet eine Reihe, die sich mit Tendenzen beschäftigen wird, wie Bildung mehr und mehr den Charakter einer Ware annimmt. Die Beiträge werden einmal pro Monat erscheinen. Der erste Artikel erschien in der Ausgabe 28 am 7.7.06: Vom Menschenrecht zur Markenware von Clemens Knobloch
PRIVATISIERUNG DER BILDUNG
In Schulen und Universitäten regieren immer mehr die Gesetze des Marktes. Öffentliche Lernorte sind durch neoliberale Reformen und finanzielle Auszehrung bedroht
Die neoliberale Vermarktung der öffentlichen Bildungseinrichtungen hat in den letzten Jahren erheblich an Fahrt gewonnen. Je prekärer die beruflichen und ökonomischen Perspektiven breiter Schichten werden, desto besser lassen sich „Bildungsreformen“ verkaufen, scheint doch die „gute Ausbildung“ die beste und einzige Rückversicherung gegen die Wechselfälle eines harten globalen Arbeitsmarktes zu sein. Es ist freilich ironisch und paradox, dass ausgerechnet der traditionelle Bildungsaufstieg, der Berufschancen an öffentliche Bildungsdiplome bindet, als Motiv für Privatisierung und Entkopplung von Bildung und öffentlicher Hand herhalten muss. Denn am Ende dieser „Reformen“ wird Bildung kein öffentliches Gut mehr sein, über dessen politisch verantwortete Verteilung ein Stück Chancengleichheit hergestellt wird – sondern eine Markenware.
Beharrlich und Schritt für Schritt wird das öffentliche Bildungswesen in betriebswirtschaftliche Strukturen eingefädelt. Die Maßnahmen sind immer die gleichen, in reichen wie in armen Ländern: Freie Konkurrenz der Institutionen, freie Wahl der Bildungseinrichtungen durch die „Kunden“, freie Auswahl der „Kunden“ durch die Bildungseinrichtungen, Schulgeld und Studiengebühren oder Bildungsgutscheine, die an den Institutionen eingelöst oder in eine kostspieligere Ausbildung eingebracht werden können.
Bildung als Dienstleistung
Bei den Studiengebühren ist jetzt nach langer und vorsichtiger Annäherung die Schwelle überschritten. Das Publikum hat sich an den Gedanken Schritt für Schritt gewöhnen lassen. Die Stationen waren: Niemals – vielleicht – für Langzeitstudenten – für alle. Man darf davon ausgehen, dass jetzt auch die Beträge ins Purzeln geraten werden. Denn Obergrenzen sind natürlich staatlicher Dirigismus, wenn die Hochschulen einmal in die betriebswirtschaftliche „Autonomie“ entlassen sind. Symptomatisch ist das Verhältnis zwischen den noch öffentlichen und den schon privaten Hochschulen. Dass die Privatuniversität Witten/Herdecke ebenso wie die International University Bremen (IUB) pro Student weit mehr Geld aus dem Landeshaushalt erhalten als die öffentlichen Hochschulen, ist ebenso bekannt wie skandalös. Es ist auch ein Beleg dafür, dass Privatisierung öffentliche Politik ist und großzügigst aus Steuergeldern subventioniert wird. „Frei“ sind die Privaten in der Festsetzung ihrer Studiengebühren. Aber das ist noch nicht das Ende. Über die Liberalisierungen der Dienstleistungen in der EU (auch Bildung ist eine „Dienstleistung“) werden private Anbieter künftig darauf insistieren können, dass sie mit öffentlichen Anbietern gleichgestellt und letztere nicht konkurrenzverzerrend subventioniert werden. In der Folge wird der Druck wachsen, öffentliche Bildungseinrichtungen zu privatisieren oder die privaten den öffentlichen materiell gleichzustellen. Für die privaten Anbieter ist das eine win-win-Situation, für die öffentliche Bildung das Gegenteil.
Die staatliche Universität wird ausgehungert, das eingesparte Steuergeld macht die Privaten fetter. Und, merkwürdig genug, es schadet dem Ansehen der Marke Uni Witten/Herdecke gar nicht, wenn die fachliche Begutachtung (wie jüngst geschehen) es nahe legt, die Medizinausbildung zu schließen, weil sie den modernen Ansprüchen nicht genügt. Für eine öffentliche Universität wäre das ein Skandal ersten Ranges. Die Bezeichnung „Privatuniversität“ transportiert aber schon per se den Nimbus der Elite, gleich wie die Ausbildung dort tatsächlich aussieht. Es gibt viele Indizien, die anzeigen, dass bei den privaten Anbietern vor allem eine hoch entwickelte Fassadenkunst vorherrscht. Sie haben es eben gelernt, eine Marke zu bewerben. Eine private Medienhochschule in Hamburg verspricht ihren Studierenden (Jahresgebühr: 15.000 Euro) ganz dreist, dass man sie mit den Mächtigen und Einflussreichen der Branche zusammenbringen wird.
Parallel dazu werden die Bildungseinrichtungen betriebswirtschaftlichen Controlling-Prozeduren auf allen Ebenen unterworfen. Das geht so weit, dass zum Beispiel für Studiengänge festgelegt wird, dass sie geschlossen werden müssen, wenn sie eine bestimmte Studentenzahl unterschreiten. Das Regime der Kennzahlen ist sachzwangförmig und muss nicht politisch durchgesetzt werden. Kein Land hat bisher den Mut gehabt, eine Universität zu schließen. Warum auch, wenn man Bildungseinrichtungen viel eleganter in die Pleite entlassen kann?
Für diese Politik gibt es einen Auftrag. Aber nicht vom Wähler, sondern von der Firma Bertelsmann, die sich mit Hilfe williger Politiker den hoch expansiven und profitträchtigen Bildungsmarkt schafft, den sie einmal zu beliefern hofft.
Dass die Bertelsmann-Stiftung die vakante Position eines Bundesbildungsministeriums (manche sprechen sogar von einem „Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda“) zunehmend selbstbewusst besetzt, ist inzwischen nicht einmal mehr ein offenes Geheimnis, sondern ein Gemeinplatz. Wo Schulen, Hochschulen oder öffentliche Verwaltungen neoliberal umgebaut werden, braucht man nach der Bertelsmann-Stiftung nicht lange zu suchen. Dabei wirken die gewählten Akteure der Politik nicht einmal als Verführte oder Getriebene. Der Beobachter hat vielmehr den Eindruck von Lemmingen mit ausgeprägtem Todestrieb. Die Gewählten scheinen froh und glücklich, dass sie mit der Verantwortung für den Sozial- und Umverteilungsstaat gleich auch noch die Verantwortung für das öffentliche Bildungswesen loswerden. Schließlich haben sie ja den ganzen PISA-Ärger auszubaden. Dass sie damit auch die Quellen für die Legitimierung der eigenen Macht zum Versiegen bringen, scheint den wenigsten bewusst zu sein. Wir werden sehen, wie viel „Staat“ allein mit Armee und Polizei zu machen ist.
Ist es angesichts dieser Lage ein Wunder, dass die dienstbaren Geister des Hauses Bertelsmann nachgerade platzen vor Selbstbewusstsein und auch schon einmal die „Wir können auch anders“-Platte auflegen? Die Form der (gemeinnützigen und von der Steuer befreiten) Stiftung erlaubt es dem tragenden Konzern, seine langfristigen politischen und ökonomischen Interessen effizient zu vertreten, ohne dass er dabei überhaupt als interessierter Konzern auftreten muss.
Das stiftungseigene Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) spielt virtuos auf allen Manualen der öffentlichen Meinungsbildung. Sein Lieblingskind, die Studiengebühren (in NRW neuerdings als „Studienbeiträge“ rhetorisch geschönt), hat das CHE kurz nach seiner Gründung der Hochschulrektorenkonferenz zur Adoption angeboten. Die griff bekanntlich zu und ließ sich auch weiterhin inspirieren von einer durch das CHE inszenierten Umfrage, wonach sogar die Studierenden mehrheitlich Studiengebühren befürworteten. Den chronisch unterfinanzierten Hochschulen wurde systematisch der Mund wässerig gemacht, sollten sie sich doch eine Verbesserung ihrer finanziellen Situation errechnen können. So wurden in vielen Hochschulgremien die Studiengebühren schon verteilt, ehe sie noch erhoben wurden.
Noch erfolgreicher agiert die Bertelsmann Stiftung in der Schulpolitik. Interessant auch, dass der Arm des Medienriesen bis weit in die Gewerkschaften reicht und gerade auch in der Sozialdemokratie und bei den Grünen die Schulpolitik konzeptuell auf Vordermann bringt. Strategisch ist das wieder einmal erste Sahne. Gerade als „links“ und egalitär geltende Organisationen werden die Einführung von Schulgeld für die Sekundarstufe II (ebenfalls ein Lieblingskind der Bertelsmänner) glaubwürdig öffentlich vertreten können.
Vielfach flankiert wird Bertelsmann vom Stifterverband für die deutsche Wissenschaft, der, nach dem Zweiten Weltkrieg als Stifterverband der Wirtschaft gegründet, heute fast das gesamte einschlägige Stiftungsvermögen der Privatwirtschaft als Lobbyorganisation verwaltet.
Rhetorik der Freiheit
Rhetorisch kommt der Markt immer als „Freiheit“. In NRW haben wir jetzt ein „Hochschulfreiheitsgesetz“, das die Universitäten (wie es in der vielfach bewährten Sprache heißt) noch leistungsfähiger und international wettbewerbsfähiger machen soll. „Freiheit“ zieht jetzt endlich auch in die Schulen des größten Bundeslandes ein. Durch die Auflösung der Schulbezirke können künftig Eltern auch die Grundschule ihrer Kinder frei wählen.
Die zweite Säule der neoliberalen Reformrhetorik verbindet Staat und Bürokratie mit der Verhinderung von „Öffnung“, „Wettbewerb“ und „notwendigen Reformen“. Kapitalisiert wird an dieser Front die wachsende öffentliche Unzufriedenheit mit den Zuständen im öffentlichen Bildungswesen. Dessen materieller und reputativer Ruin ist durchaus Teil der Strategie. Jeder Schulskandal von PISA bis Rütli ist Wasser auf die Mühlen der Privatisierer. Wer alles Mögliche für den Bildungsaufstieg seiner Kinder tun möchte, der wird bei jedem Bericht über katastrophale Zustände an öffentlichen Schulen bereit sein, ein Stück tiefer in die eigene Tasche zu greifen. Und das Motiv, den Kindern eine „gute Ausbildung“ mit auf den Lebensweg zu geben, kann man unbesorgt in jede rhetorische Kalkulation einsetzen.
Jeder, der im Schul- oder Hochschulwesen tätig ist, kann freilich bestätigen, dass mit der wachsenden Lautstärke des auf allen Kanälen gespielten Freiheitsliedes zugleich auch die Kontroll- und Regelungsdichte überproportional zunehmen. Mit der „Freiheit“ kommt an den Gymnasien (in NRW) auch das Zentralabitur, außerdem ein ganzes Netz zentraler Leistungsprüfungen, die an den Schulen durchgeführt und ausgewertet werden müssen. Mit der Auflösung der Staatlichen Prüfungsämter für das schulische Lehramt kommt eine detaillierte Regelung aller Prüfungen und Zwischenprüfungen, die von den Hochschulen nun „autonom“ veranstaltet werden müssen. Je „freier“ das Personal an den Bildungseinrichtungen, desto schamloser werden die geforderten Unterwerfungsriten. Die Fiktion autonomer Akteure wird inszeniert im Gewande von Zielvereinbarungen zwischen den Bildungseinrichtungen und ihren (natürlich stets im Rückzug befindlichen) öffentlichen Trägern. Dabei legt sich die Bildungseinrichtung auf Ziele fest, über deren Bewältigung sie nicht die geringste Kontrolle ausübt (Studentenzahlen, Erfolgsquoten, Drittmittel, Doktorandenzahlen). Der Träger verspricht finanzielle Einbußen, wenn die vereinbarten Ziele nicht erreicht werden.
Zur erfolgreichen rhetorischen Implementierung neoliberaler Bildungspolitik gehört die Allgegenwart des „Ranking“ und „Rating“. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, wer an welchen Rangplatz gerät. Der erste muss strampeln, um seinen führenden Platz zu erhalten, und der letzte, um seinen Abstieg in die Regionalliga zu verhindern. Der Effekt ist immer der gleiche: die Zerstörung der gemeinsamen Interessen und die Befeuerung der Konkurrenz.
Kampf um beste Köpfe
Regelmäßig angestimmt wird auch das Lied von der Notwendigkeit effektiver Elitenbildung und Elitenförderung im Zeitalter der globalen Konkurrenz um „die besten Köpfe“, die natürlich verkümmern, wenn sie die Bildungseinrichtungen zusammen mit den viel zahlreicheren Holzköpfen besuchen müssen. Da nützt es wenig, daran zu erinnern, dass die anerkannt besten Bildungssysteme das gemeinsame Lernen prämieren. Da nützt es noch weniger, daran zu erinnern, was der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann gezeigt hat: dass die deutschen Macht-, Geld- und Verwaltungseliten ein nahezu geschlossenes System der Selbstrekrutierung bilden. Die Durchlässigkeit nach unten geht gegen Null. Wie öffentlich über Eliten gesprochen wird, zeigt nur an, ob diese Selbstrekrutierung für legitim gelten soll oder für einen politischen Skandal.
Wer die Folgen abschätzen will, welche die neoliberale Revolution im Bildungswesen hervorbringen wird, wenn sie nicht auf entschiedenen politischen Widerstand stößt, braucht nicht viel Phantasie. Für die breite Masse wird jedwede berufsqualifizierende Ausbildung schlecht und teuer. Trotz wachsender Kosten für die „Kunden“ wird die Massenbildung chronisch unterfinanziert bleiben, weil sich die gewinnträchtigen Komplexe aus (kleiner, aber feiner) Markenuniversität, betuchtem Publikum und reichen Forschungsgeldern an wenigen Stellen konzentrieren werden. An allen anderen Stellen wird der Mangel mehr oder weniger effektiv verwaltet werden.
Es wäre natürlich albern, wollte man dem öffentlichen Bildungswesen bescheinigen, dass es die beste aller möglichen Welten hervorbringen hilft und die Chancengleichheit garantiert. Und natürlich kann es auch gute Privatschulen (meinethalben sogar gute Privatuniversitäten) geben. Fatal an der neoliberalen Privatisierungspraxis ist aber in jedem Falle der Umstand, dass die Verteilung von Chancen stärker an den Geldbeutel gebunden und der öffentlichen politischen Zuständigkeit entzogen wird. Für Bildungspolitik wird es am Ende gar keinen Adressaten mehr geben, wenn der Bildungsmarkt einmal durchgesetzt ist.
Ein kommerzielles Bildungssystem ist immer ein undemokratisches Bildungssystem. Dass mit der überbordenden Freiheitsrhetorik die demokratische Selbstverwaltung der Hochschulen restfrei entsorgt wird, dass die „Öffnung“ der Hochschule für die Gesellschaft faktisch ihre Auslieferung an das Kapital bedeutet, ist kein Zufall. Wo Ökonomie und Controlling regieren, ist jede Form von demokratischer Beteiligung ein schlechter Scherz. Von der verfassungsmäßigen Lehr- und Forschungsfreiheit bleibt dann nur, was der Hochschulrat befürwortet.