Auch in Oesterreich: Lieber reich und gesund als arm und Krank

Ein neues Buch zum Thema Gesundheitsprivatisierung in Österreich im internationalen Vergleich.
Und eine Homepage mit Zeitungsschau zum diesem Thema
http://www.krankegeschaefte.at/zumthema.htm
mit Newsletter.

Warum erhöhen Krankenkassen Selbstbehalte und reduzieren gleichzeitig ihre Leistungen?
Warum haben private Unternehmen wie Baukonzerne, Banken und Versicherungsriesen Interesse Krankenhäuser oder Pflegeheime zu betreiben?

Europas Gesundheitssysteme sind auf dem Weg zu amerikanischen Verhältnissen. Der Staat zieht sich zunehmend aus der Versorgung zurück. Stattdessen besetzen Privatunternehmen Schlüsselpositionen im Gesundheitswesen. Wer es sich leisten kann, bekommt weiterhin eine umfassende Versorgung. Andere müssen warten. Schon jetzt zahlen die Österreicherinnen und Österreicher fast ein Drittel aller Gesundheitsausgaben aus der eigenen Tasche – Tendenz steigend. In Deutschland gehören bereits 20 Prozent aller öffentlichen Krankenhäuser privaten Konzernen, die auch schon in Österreich Fuß gefasst haben.

Kranke Geschäfte mit unserer Gesundheit zeigt diese Entwicklungen im internationalen Vergleich auf, stellt die Akteure im Liberalisierungskarusell vor und deckt deren Pläne und Netzwerke auf. Ein Buch für alle, die Veränderungen im Gesundheitswesen mit Unbehagen verfolgen, denen aber die Zusammenhänge und Hintergründe bisher verborgen geblieben sind.

P/OeG Newsletter Januar 2007

1. Bericht PRESOM
2. Freiburg Bürgerentscheid gegen Privatisierung
3. WSF Nairobi-Berichte (p/ög, U.Brand, P.Wahl)
4. zwei Fragen aus der Newsletter-Redaktion
5. Termine/Konferenzen/Ankündigungen

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1. PRESOM Athens Workshop
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„Privatisation and the European Social Model
(26/27 January 2007)“

Das von der Europäischen Union im 6. Rahmenprogramm geförderte
Forschungsprojekt PRESOM (Privatisierung und das Europäische
Sozialmodell) hat mit einer Tagung in Athen sein zweites Programmjahr
gestartet. Gastgeber war die Nicos Poulantzas Gesellschaft in Athen.
Ziel des PRESOM Projektes ist es, eine wissenschaftlich gesicherten
Einschätzung der Auswirkungen von Liberalisierung und Privatisierung
auf das Europäische Sozialmodell zu erarbeiten.

Zum Auftakt gab es eine Podiumsdiskussion mit griechischen
Gewerkschaftsvertretern, auf der verschiedene Aspekte der
Privatisierungspolitik in Europa erörtert wurden. Jürgen Huffschmid,
einer der Koordinatoren des PRESOM Projektes stellte zunächst die Ziele
und Fragestellungen der Projektes vor. Anschließend gab Malcolm Sawyer
von der Business School der Universität in Leeds einen Einblick in
seine Forschung zu den finanzpolitischen Auswirkungen der
Privatisierungspolitik und argumentierte, dass die Privatisierungen
keineswegs zu einer Entlastung der öffentlichen Haushaltsschulden
führen. Im Gegenteil: gerade in langfristiger Perspektive wird die
Sicherung öffentlicher Infrastrukturen und die Versorgung mit sozialen
Dienstleistungen für die öffentlichen Haushalte teurer, wenn sie von
privaten Anbietern gekauft oder geleast werden müssen. Christoph
Hermann von der Forschungs- und Beratungstelle für betriebliche
Arbeitnehmerfragen (FORBA) in Wien stellte die ersten Überlegungen zum
Europäischen Sozialmodell vor. Problem sei es dabei vor allem, dass der
Begriff einer blackbox gleich von verschiedenen politischen Kräften
gebraucht und mit jeweils eigenen Inhalten gefüllt werde. Insbesondere
die Liberalisierungslobby in der EU gebrauchen den Begriff vor allem
als Instrument um bisher bestehende nationalstaatliche Regelungen
auszuhebeln. Die Linke habe es bisher verpasst, den Begriff des
Europäischen Sozialmodells nach eigenen Vorstellungen zu definieren.
Marica Frangakis, von der Nicos Poulantzas Gesellschaft stellte die
ersten Ergebnisse der PRESOM Forschung vor und differenzierte das
Privatisierungsgeschehen sowohl in zeitlichen Wellen als auch nach
Ländergruppen. Insbesondere unterschied sie ein skandinavisches, ein
west-, ein ost- und ein südeuropäisches Privatisierungsmuster. Karoly
Lorant, ungarischer Abgeordneter des Europaparlaments, gab einen
Überblick zum Privatisierungsgeschehen in den mittel- und
osteuropäischen Ländern. Anders als die Privatisierungsprozesse in
Westeuropa erfolgte der Ausverkauf staatlicher Beteiligungen hier nicht
schrittweise, sondern schockartig im Rahmen einer abrupten
gesellschaftlichen Transformation. Die anschließende Diskussion rankte
sich vor allem um die Gefahren und Perspektiven einer Europäisierung.
Während einerseits vor allem auf die neoliberalen Impulse der
Europäischen Union verwiesen wurden, plädierten andere dafür, die
europäische Ebene stärker als politische Arena zu begreifen und sich
entsprechend mit eigenen Vorstellungen in die Europäisierungsprozesse
einzubringen.

Auf der eigentlichen PRESOM Tagung wurde der erste Jahresbericht
diskutiert und die Ergebnise der ersten drei Arbeitsgruppen (WP 1:
Hintergrund und Geschichte der Liberalisierung und Privatisierung in
der EU; WP 2: Theoretische Ansätze zur Privatisierung; WP 3: Konzepte
des Europäischen Sozialmodells) vorgestellt. Anschließend wurden die
Arbeitspläne für 2007 abgestimmt. Im Vordergrund werden dabei
Untersuchungen in den Sektoren Finanzen, Soziale Dienste
(Gesundheitsversorgung und Rentensystem) sowie Bildung stehen. Parallel
sollen die Privatisierungseffekte in den neuen Mitgliedstaaten der EU
in Osteuropa systematisch untersucht werden. Erste Zwischenergebnisse
sollen bereits in den nächsten Monaten auf verschiedenen Konferenzen
(unter anderen auf der Alternativen EcoFin-Konferenz am 20./21. April
in Berlin) zur Diskussion gestellt werden. Die nächste größere
PRESOM-Tagung wird am 29./30. Juli in Ljubljana (Slowenien)
stattfinden.
http://www.presom.eu/

2. Freiburg: Erfolg gegen Privatisierung durch Bürgerentscheid
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Friedrich Hecker (p/ög-Korrespondent – Freiburg) berichtet: In
Freiburg hat am Sonntag, 12. November 2006, ein Bürgerentscheid
erfolgreich den Verkauf der städtischen Wohnungen verhindert. 41.000
Menschen, d.h. 70,5% der Stimmen, sprachen sich gegen den Verkauf aus
und nur 29,5% dafür. Anfang April hatte der grüne Oberbürgermeister
angekündtigt, die Freiburger Wohnungen zwecks Haushaltssanierung zu
verkaufen. Mögliche Käufer: „Heuschrecken“ wie z.B. Fortress oder
Cerberus, denen es nicht um sozialen Wohnungsbau, sondern nur um
größtmögliche Profite geht. Eine schwarz-grüne Koalition beschloss dann
im Juli den Verkauf. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte schon die
Bürgerinitiative „Wohnen ist Menschenrecht“
(http://www.wohnen-ist-menschenrecht.de) genügend Unterschriften
zusammen, um einen Bürgerentscheid zu erzwingen. Im Wahlkampf
versuchten die Grünen (von Hausbesetzern zu Hausbesitzern geworden) die
Menschen in Freiburg gegeneinander auszuspielen: Schulen z.B. könnten
nur saniert werden, wenn die Wohnungen verkauft würden. Doch die
Menschen ließen sich nicht davon beirren und im Wahlkampf engagierten
sich unzählige, die erstmals in ihrem Leben politisch aktiv waren. Die
Bürgeriniative wurde dabei von Mieterbeiräten, Gewerkschaften und
Stadtteilvereinen genauso wie von lokalen Oppositionsparteien wie SPD,
Die Linke.WASG und der Linken Liste unterstützt. 30 Jahre nach
erfolgreichen Verhinderung eines Atomkraftwerkneubaus in Wyhl haben die
Freiburger erneut gezeigt, daß die Bevölkerung Politik gegen die
Herrschenden durchsetzen kann.

3. WSF Nairobi-Berichte
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Die rls-Veranstaltung zum p/ög-Themenkreis hieß „Die Kommodifizierung
von Wasser: Von sozialer Krise zum Widerstand“: Der gesellschaftliche
Umgang mit Wasser hat vielfältige Auswirkungen auf ärmere Haushalte.
Der Workshops beleuchtete Wasser als umkämpftes, öffentliches Gut aus
der Perspektive des Nordens und des Südens und widmete sich der Frage
wie Wasserversorgung reorganisiert wird um die Akzeptanz durch
neoliberale Konzepte sicherzustellen. Im Zentrum standen verschiedene
Strategien des Widerstands von Aktivitäten gegen die Einführung von
Vorrauszahlungen bis hin zur Infragestellung der Rekommunalisierung des
Wasserverbrauchs.
Mehr zur rls auf dem WSF:
http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=9929&tx_ttnews[tt_news]=703

***

Ulrich Brand berichtete in der Frankfurter Rundschau am 27.1.07:

„Die Netzwerke für eine andere Welt werden dichter“
Das Weltsozialforum 2007 in Nairobi war ein weiterer Schritt zum Aufbau
einer kritischen globalen Zivilgesellschaft. Es wurden Kampagnen für
mehr Gerechtigkeit und Demokratie verabredet.

Die New York Times schrieb vor einigen Jahren, dass sich neben den USA
eine zweite Supermacht herausbilde, nämlich eine globale
emanzipatorische Zivilgesellschaft, deren deutlichster Ausdruck das
jährliche Weltsozialforum sei. Auch wenn diese Einschätzung übertrieben
ist, zeigt sie doch: Die Legitimationskrise des herrschenden
Wirtschaftsmodells ist nicht nur auf dessen für viele Menschen
desaströse Folgen zurückzuführen, sondern auch auf den Protest von
immer mehr Menschen.
Das Weltsozialforum ist ein legitimer Gegenpol zum alljährlich
zeitgleich stattfindenden Weltwirtschaftsforum in Davos. Es ist ein
großer Erfolg, dass das WSF nunmehr zum siebten Mal stattgefunden hat
und zum ersten Mal als Gesamtforum in Afrika. Angesichts der
katastrophalen Lebensumstände vieler Menschen war die Stimmung wütender
als zuvor. Mehr als 10 000 Teilnehmende folgten dem Aufruf, am letzten
Tag 14 Kilometer durch verschiedene Slums zu gehen – für die meisten
ein schockierendes Erlebnis.
Im Zentrum vieler Veranstaltungen stand die Europäische Union und ihre
neoliberalen und militaristischen Weltordnungspolitiken. Die derzeit
verhandelten Economic Partnership Agreements zwischen der EU und vielen
afrikanischen Staaten wurden scharf als neokoloniale Politiken
kritisiert und es wird große Kampagnen von Attac und anderen dagegen
geben. Auch in vielen anderen Bereichen wurden globale Aktionstage und
Kampagnen verabredet.
Eine Diskussion bleibt zentral für die altermondialistischen (für eine
andere Welt eintretenden, Red.) Bewegungen sowie für die praktische
Gestaltung einer anderen Globalisierung. Nämlich über Protest hinaus
Alternativen zu organisieren. Insoweit wären die Bewegungen nicht nur
für die „Aufräumarbeiten“ von neoliberaler und imperialer Zerstörung
zuständig.
Eine Frage wurde häufig gestellt: Soll das Weltsozialforum ein offener
Raum bleiben, in dem sich unterschiedliche Akteure von
Friedrich-Ebert-Stiftung, Kirchen und karitativen NGOs über linke
Gewerkschaften bis hin zu radikalen Basisgruppen treffen? Hier werden
Wissen und Erfahrungen ausgetauscht, Netzwerke geknüpft, Kampagnen
geplant, sich in den je spezifischen Auseinandersetzungen gestärkt.
Insbesondere feministische Gruppen haben über das WSF ihre
transnationalen Netzwerke gestärkt.
Im Vergleich zu früheren WSF gab es in Nairobi wesentlich mehr
Strategietreffen. Da man sich dort häufiger sieht, entstehen jene
Vertrauensverhältnisse, ohne die transnationales demokratisches Handeln
nicht möglich ist.
Ein weitergehender Vorschlag lautet, einen kollektiven Akteur zu
konstituieren, der global agiert. Der senegalesische Wissenschaftler
Samir Amin schlägt die Schaffung einer Fünften Internationale vor. Ein
„neues historisches Subjekt“ sei notwendig. Dies wird scharf
kritisiert: Es sei ein Vorschlag von Intellektuellen, die angeblich
wissen, wo es langgeht. Die Vorstellung eines einheitlichen Subjekts
stehe in der Tradition der autoritären Linken.
Und dennoch trifft die Frage nach einem kollektiven Akteur ein
zentrales Problem: Wie können angesichts der Globalisierung, die
derzeit die ohnehin Stärkeren noch mehr stärkt, Eingriffe in
(welt-)gesellschaftliche Machtverhältnisse gelingen? Gegen Kriege um Öl
und „gegen den Terrorismus“, gegen die enorme Macht des Kapitals, gegen
die wirtschaftlich und ökologisch desaströsen Wirkungen des Weltmarkts,
für eine Stärkung von Demokratie und solidarischer Ökonomie?
Meine Einschätzung ist, dass Alternativen zunächst um konkrete
Konflikte herum organisiert werden. Beispielsweise haben die inzwischen
sehr gut organisierten globalen Bewegungen für Gesundheit, für
Menschenrechte, für Landreform und alternative Landwirtschaft oder für
menschenwürdiges Wohnen Erfahrungen zusammengetragen und daraus
Forderungen entwickelt, die nun in den verschiedenen Kontexten
umgesetzt werden sollen. Die Gewerkschaften unternehmen enorme
Anstrengungen internationaler Vernetzung. Viele internationale
Netzwerke wie jene gegen Wasserprivatisierung oder für das Recht auf
Wohnen haben in Nairobi afrikanische Partner gewonnen.
Entscheidend ist aber, ob und wie über diese konkreten Konflikte hinaus
es möglich wird, grundlegend in politische und ökonomische
Machtverhältnisse einzugreifen. „Eine andere Welt ist möglich!“ –
dieses Motto der altermondialistischen Bewegung verwirklicht sich durch
Bewegungen und Kampagnen, aber eben auch durch sich verändernde
Institutionen, vor allem des Staates und von Unternehmen, inklusive der
Verfügungsrechte über Eigentum.
Dann stellen sich aber weitere entscheidende Fragen: Wie können
emanzipatorische Errungenschaften gesellschaftlich abgesichert werden
und wie können Regeln eines (welt-)gesellschaftlichen Zusammenlebens
entstehen? Welche Rolle spielen hier der Staat, mit dem die meisten
Menschen heute schlechte Erfahrungen machen, und die internationale
Politik? Welchen Stellenwert haben progressive Parteien? Auf diese
Fragen entsteht heute durch Netzwerke und Kampagnen und in konkreten
Konflikten gegen die Macht von Staat und Unternehmen eine erste und
sehr dynamische Antwort.

***

Peter Wahl berichtet über „Licht und Schatten. Eine erste Bilanz des
Weltsozialforums in Nairobi“

Die Bilanz des Weltsozialforums in Nairobi fällt widersprüchlich aus.
Positiv war, dass das Forum in Afrika stattgefunden hat. Es war eine
Schwäche der früheren Sozialforen, dass die afrikanische
Zivilgesellschaft, ihre Themen und Probleme immer stark
unterrepräsentiert waren. Nairobi hat diese Lücke geschlossen. Das
Forum 2007 bot der afrikanischen Zivilgesellschaft die Gelegenheit,
sich als Teil der globalen Bewegung für Alternativen zu den
herrschenden Verhältnissen darzustellen und eine gemeinsame Identität
zu entwickeln. Viele neue Informationen, die Debatten und die
Vernetzung mit anderen haben sicher einen wertvollen Beitrag zu
Stärkung der afrikanischen Zivilgesellschaft leisten können.
Dies gilt zumindest für den anglophonen Teil des Kontinents. Denn auch
in Nairobi war die koloniale Teilung in einen anglophonen und
frankophonen Teil schmerzhaft spürbar. Die Beteiligung Westafrikas war
sehr gering. Damit reproduzierte sich mit umgekehrten Vorzeichen das,
was beim regionalen Forum 2006 in Bamako aufgetreten war.
Auch für Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Industrieländern, die
zum ersten Mal nach Afrika kamen, brachte das Forum wichtige
Erkenntnisse. Was sie sonst nur aus abstrakten Satistiken über Armut
und Elend kannten, wurde greifbar und mit konkreter Erfahrung
aufgefüllt. Denn die Veranstaltungen, die Zeltstadt mit ihren
Infoständen, die vielen informellen Kontakte wurden von den
existentiellen Alltagsproblemen der afrikanischen Realität dominiert –
Hygiene, Wasser, Aids, Gewalt gegen Frauen, Korruption, Verschuldung,
Straßenkinder usw. Die Akteure, die diese Themen repräsentierten, waren
vorwiegend NGOs, darunter in besonders hohem Maße kirchliche Hilfswerke
sowie große, international operierende NGOs.

Verlust an Attraktivität und Ausstrahlungskraft
Über den positiven Aspekten sollten allerdings nicht die Defizite
dieses WSF übersehen werden. Das fängt mit der deutlich geringeren
Beteiligung an. Auch wenn man nicht brasilianische Verhältnisse zum
Maßstab machen will, wo in Porto Alegre übers Wochende einfach mal
100.000 Brasilianer auflaufen, so muss man zur Kenntnis nehmen, dass
selbst die Teilnahme aus den Industrieländern generell geringer war.
Das heißt: an den Reisekosten allein kann es nicht gelegen haben. Die
Attraktivität in die Bewegung hinein ist sichtlich zurückgegangen.
Auch die politische Ausstrahlung nach außen hat spürbar nachgelassen.
Die internationale Medienberichterstattung war geringer und mehr als
früher auch negativ. Das gilt auch für Deutschland. Damit ist eine der
wichtigsten Funktionen der Foren, nämlich weltweit als Gegenpol zum
Weltwirtschaftsforum in Davos wahrgenommen zu werden, deutlich
reduziert. Die poltische Botschaft, die sonst vom WSF in die Welt
gegangen war, ist schwächer geworden.
Dabei spielen sicher auch „natürliche“ Gründe mit hinein. Der Reiz des
Neuen ist nach sieben Jahren verflogen. Und wer seriös Politik macht,
kann nicht permanent das mediale Bedürfnis nach Spektakularität
bedienen. Aber dennoch ist ein Gutteil der gesunkenen Außenwirkung
hausgemacht.

Pluralität muss Produktivkraft werden
So hat die starke single issue-Orientierungauch eine Kehrseite: eine
qualifizierte Weiterentwicklung der Kritik an der Globalsierung als
systemisches Phänomen fand in Nairobi kaum statt. So wurden z.B. die
internationalen Finanzmärkte, die immerhin den Kern des neuen
Akkumulationsregimes (vulgo: Globalisierung) bilden, in gerade mal fünf
Veranstaltungen ausdrücklich thematisiert.
Auch hat sich der Verzicht auf Großveranstaltungen mit prominenten
Bewegungsintellektuellen nicht ausgezahlt. Abgesehen davon, dass es für
die Identitätsbildung einer so heterogenen Bewegung auch solcher
verbindender Elemente bedarf, ist damit ein Stück Außenwirkung verloren
gegangen.
Übrig bleibt dann nur die unverbundene Koexistenz einer Vielzahl von
single issues. Es geht dabei überhaupt nicht darum, die Pluralität und
Offenheit des Forums einzuschränken. Vielfalt ist aber nur dann eine
Stärke, wenn die unterschiedlichen Elemente in produktive Reibung
miteinander treten, wenn Verallgemeinerung, Synthese und gemeinsame
Lernprozesse möglich werden. Ein statisches Pluralismusverständnis
führt hingegen dazu, dass das Forum zumMarkt der Möglichkeitenzerfällt
– mit dem enstprechenden Risiko der Entpolitisierung.
Insofern ist das Format des WSF in Nairobi mitverantwortlich für den
Verlust an Attraktivität nach innen wie nach außen.
Einige Hilfswerke und NGOs haben diese Entwicklung befördert, weil sie
glauben, das sei „ideologiefrei“. Schützenhilfe bekommen sie dabei von
einigen Linken, die aus einem Affekt gegen „die Promis“, den sie für
basisdemokratisch halten, in die gleiche Richtung ziehen.
Hier sind Reformen notwendig. Es kommt darauf an, ein Format zu
entwickeln, das komplementär zu den single issuesVerallgemeinerung
ermöglicht, scheinbar Disparates und Konkretes bündelt und Pluralität
zu einer Produktivkraft werden lässt.

Das Gegenteil eines Fehlers ist meist wieder ein Fehler
Die Versammlung der Sozialen Bewegunghat ein explizit politisches
Selbstverständnis. Sie will – anders als das Gesamtforum – nicht nur
ein Raum sein, sondern einen transnationalen Akteur konstituieren und
Handlungsfähigkeit entwickeln. Sie ist der Kristallisationskern der
Linken innerhalb des Forums und möchte einen bewussten Gegenakzent zur
Mehrheit der NGOs bilden. Allerdings bestätigte die Versammlung in
Nairobi die alte Binsenweisheit, dass das Gegenteil eines Fehlers meist
wieder ein Fehler ist.
Zwar wurde eine Erklärung verabschiedet, in der nichts Falsches steht,
ansonsten bestand das Meeting aber hauptsächlich darin, dass Fäuste
geballt wurden, Amandla Ngawethu,Parolen vom Typus „Hoch die …Weg
mit…“gleich im Dutzend gerufen wurden und zum Teil sektiererische
Kritik am Forum im allgemeinen und „den NGOs“ im besonderen geübt
wurde. Das ist nicht die Alternative zur Entpolitisierungtendenz des
WSF.
Notwendig ist stattdessen, Räume für eine qualifizierte Kritik der
Globalsierung auf der Höhe der Zeit zu schaffen. Auch das wäre im
Format des Forums zukünftig zu berücksichtigen.

WSF und Staat
Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen agieren außerhalb des
formellen politischen Systems. Sie versuchen an einem Problemfeld das
Meinungsklima in der Gesellschaft zu beeinflussen, ohne
parlamentarische Vertretung oder Regierungsbeteiligung anzustreben.
Auch wenn es inhaltliche und politische Übereinstimmungen zwischen
Parteien und/oder Regierungen und zumindest Teilen der
Zivilgesellschaft geben kann, folgen beide Akteurstypen in Strukturen
und Dynamik einer unterschiedlichen Logik und spielen gesellschaftlich
verschiedene Rollen. Insofern ist es weise, wenn das WSF auch weiterhin
auf eine gewisse Distanz zu Parteien und Regierungen achtet.
Das WSF 2007 zeigt aber auch, dass die Durchführung eines solchen
Großevents ohne die Unterstützung mindestens einer großen Kommune
äußerst schwierig ist. Bestimmte Schwächen in Nairobi, wie etwa das
Fehlen der angekündigten Übersetzung, sind nicht einfach ein
organisatorischer Mangel, sondern hochpolitisch. Eine globale Bewegung
muss ein Minimum an Kommunikationsgerechtigkeit garantieren. Wenn alles
in Englisch läuft, macht das nicht nur viele sprachlos, sondern
verfestigt auch noch die monokulturelle Hegemonie einer Sprache.
Solange staatliche Unterstützung für das WSF transparent ist und – wie
in Porto Alegre – nicht zu politischer Instrumentalisierung führt, kann
sie akzeptiert werden. Zumal gerade einige der einflussreichsten
Kritiker einer Kooperation mit dem Staat aus NGOs kommen, die selbst
über Staatsknete in der Größenordnung von sechststelligen
Millionenbeträgen zu verfügen pflegen. Insofern kam die Finanzierung
des WSF 2007 zwar nicht von der Kommune Nairobi oder dem Staat Kenia,
aber indirekt doch zu einem erklecklichen Teil aus staatlichen Budgets,
insbes. den Entwicklungs- und Außenministerien Skandinaviens,
Frankreichs, Großbritanniens, Deutschlands etc. oder aus staatlich
eingetriebener Kirchensteuern in den Industrieländern. Darüber sollte
man offen reden, statt mit zweierlei Maß messen.

Ein anderes WSF ist nötig
Das WSF war eine Erfolgsgeschichte. Aber: Wandel und Wechsel liebt, was
lebt. Damit die Erfolgsgeschichte ihre Fortsetzung findet, ist es an
der Zeit, dass das Projekt auf die Veränderungen der Rahmenbedingen
reagiert und sich erneuert.
Dazu gehört nicht nur das Format, sondern auch die Häufigkeit der
Treffen. Der Jahresturnus ist auf Dauer nicht durchzuhalten. Es muss
Raum und Zeit sein, für dezentrale, regionale und lokale Foren. Auch
was den Austragungsort angeht, dürfen früher einmal gefasste Beschlüsse
in Frage gestellt werden. Warum sollte ein WSF nicht auch einmal in
Europa stattfinden können, solange dies nicht zur Dauereintrichtung
wird?
Nötig wären auch Strukturen, die mehr Kontinuität und Kommunikation
zwischen den großen Meetings ermöglichen. Und last but not least
braucht es mehr Transparenz in den Entscheidungsprozessen. Zwar werden
angesichts der vielen praktischen und finanziellen Probleme
internationaler sozialer Bewegung ideale Standards von repräsentativer
und partizipativer Demokratie immer deutlich unterboten werden, aber
etwas mehr an Transparenz, Partizipation und damit Demokratie als
gegenwärtig ist durchaus möglich.

4. zwei Fragen: Venezuela und Irak
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* Wie läuft die De-Privatisierung der Telekomunikation in Venezuela?
Und vor allem warum läuft sie und wohin läuft sie? Ist das Ziel
Kommunikation für alle und zwar umsonst? Oder geht es um die
Rückeroberung der staatlichen Kontrolle über einen
sicherheitsrelevanten Bereich? Bedeutet die Verstaatlich vielleicht
sogar eine Militarisierung der venezolanischen Kommunikationsbranche?
(vgl. etwa http://www.nzz.ch/2007/01/08/al/newzzEWPEJBL5-12.html und
http://www.ftd.de/boersen_maerkte/geldanlage/150721.html)

* Was machen eigentlich die Ölquellen im Irak? Sprudeln sie einfach so
ruhig vor sich hin – jenseits von Besatzung und Bürgerkrieg? Oder hat
das doch irgendwie beides miteinander zu tun? Und wem gehören die
Quellen jetzt eigentlich – mal ganz formal gesehen? Und ganz praktisch?
Wer kassiert? Und was passiert mit den Petro-Dollars? wird ja wohl
mittlerweile in Dollar abgerechnet, oder? Sonst hätte der Einmarsch ja
gar nichts gebracht…
(vgl. Martina Doering: „Multis sichern sich Pfründe im Irak“ und Greg
Muttitt: „Überproportionaler Anteil am Gewinn“, beides Berliner Zeitung
vom 29.1.07, http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/ )

5. Termine/Konferenzen/Ankündigungen
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Globale Sozial Rechte vs. Neoliberalismus
Diskussionsreihe
1. Was verspricht sich die Linke von der Forderung nach „Globalen
Sozialen Rechten“?
7. 2. 2007, 19.00, Berlin, Haus der Demokratie
http://bewegungsdiskurs.de/html/programm_2007.html#eins

***

Die DHV (Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften) in Speyer
hat ein Forum „Daseinsvorsorge im Spannungsfeld von
Liberalisierungszwang und Demographie“ angekündigt (27. bis 28. März
2007).
http://www.dhv-speyer.de/Weiterbildung/wbdbdetail.asp?id=360

Diskussionsmaterial dazu von Brangsch (Politische Bildung, rls):
„Daseinsvorsorge und Liberalisierung kommunaler Wirtschaftstätigkeit“
http://www.brangsch.de/partizipation/dasein1.htm

***

Im Mai 2007 startet die attacademie.2 mit überarbeitetem Kurskonzept.
Die attacademie ist ein Weiterbildungsprogramm für politisch Aktive aus
der globalisierungskritischen Bewegung mit zwei Schwerpunkten
(Reichtum/Eigentum und Globale soziale Rechte).
http://www.attac.de/attacademie/
Info-Flyer:
http://www.attac.de/attacademie/media/Ausschreibung-Attacademie2.pdf
Bewerbungsschluss ist der 15.04.07

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Bericht: ESF Workshop "Health, drugs and research as a Public Good"

Der Workshop wurde veranstaltet von der rls in Kooperation mit PHM (People’s Heath Movement) und REDS (Red d‘ Europe pour la Defence de la Santé) und fand am XXX in XXX statt.

Referenten:
Thomas Seibert (medico international)
Christian Wagner (Buko Pharmakampagne)
Sofie Blancke (médecine pour le peuple, NGO, www.gvhv.be)
Amal Sabri, Directorin der Association for Health and Environmental Development (AHED) aus Ägypten (leitet momentan das Internationale Sekretariat des People’s Health Movement)
Kostas Diakos von den griechischen EcoloGreens

Thomas Seibert stellte die These auf, dass der Begriff der öffentlichen Gütern deshalb eine Konjunktur innerhalb der Linken habe, weil er die Orientierungsbegriffe „Sozialismus“ und „Kommunismus“ im Neoliberalismus abgelöst habe. Der Slogan „Eine andere Welt ist möglich“ würde in den Kämpfen gegen Privatisierung konkretisiert und beschreibe so die Politik gegen den Neoliberalismus. Dabei kommt dem Begriff der öffentlichen Güter die Funktion zu, eine positive Perspektive zu formulieren, die nicht allein in der Kritik der bestehenden Verhältnisse verhaften bleibe. Im Anschluss daran referierte Seibert Kennzeichen, die für ihn den Epochenbruch nach 1989 markieren und zugleich die Ausgangsbedingungen politischer Perspektiven abstecken. Neben dem Ende der Systemkonkurrenz nannte er die Internationalisierung der Arbeitsteilung und das Ende der fordistischen Massenproduktion. Diese Entwicklungen hätten die Basis des keynesianischen Sozialstaats untergraben. Deshalb müsse es vor allem darum gehen, eine Sozialpolitik durchzusetzen, die von der Lohnarbeit unabhängig ist. Dies würde die Möglichkeit bieten, die Ausschlussmechanismen des fordistischen Sozialstaats zu überwinden. Ziel müsse es sein, eine allgemeine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dieses öffentliche Gut könne nur im Rahmen einer sozialen Infrastruktur ermöglicht werden. Dies impliziere die Möglichkeit einer Radikalisierung dieser Forderung, weil sie notwendigerweise eine offene Bürgerschaft, ein bedingungsloses Grundeinkommen und globale öffentliche Güter mit sich bringt. Dies seien alles nicht unmittelbar Forderungen, die an den Staat gerichtet seien, sondern ein Rahmen, auf den sich alle sozialen Bewegungen verständigen müssen. Ausgehend von bereits geführten Kämpfen.
Christian Wagner bezeichnete seine Gruppe (Buko Pharmakampagne) als Wachhunde gegenüber der Pharmaindustrie. Aus der Perspektive der Gesundheitspolitik gehe es ihm vor allem um billige und gute Medikamente. Dabei sei vor allem der international organisierte Patentschutz (u.a. durch das TRIPS-Abkommen) ein Hindernis. Besonders für gefährliche Krankheiten. So koste aufgrund des Patentschutzes eine HIV-Kur 10.000 US-Dollar, während es in Indien mit Generika möglich sei, durch wirkungsgleiche Medikamente dieselbe Kur für nur 200 US-Dollar anzubieten. Aber auch für vernachlässigte Krankheiten, die im Trikont ca. 12 Prozent der Todesfälle ausmachen, werde aufgrund der am Profit ausgerichteten Forschung kaum Geld aufgewandt. Dabei würde sich jedoch zeigen, dass diejenigen Medikamente, die tatsächlichen einen Fortschritt für die Bekämpfung von Krankheiten darstellen würden, vor allem in öffentlichen Labors produziert werden. Ziel sollte es deshalb sein, über den Ausbau öffentlicher Labors bezahlbare Medikamente zu entwickeln, die sich am realen Bedarf (unabhängig von der Zahlungsfähigkeit) orientieren.
Sofie Blancke stellte einen ähnlichen Punkt heraus. In Neuseeland seien im Vergleich zum US-amerikanischen Markt patentierte Medikamente bis zu 53 Prozent billiger und nicht-patentierte bis zu 90 Prozent (sic!). Dabei würde zunehmend der Posten Marketing und Werbung unnötige Kosten verursachen. Die Produktionskosten seien inzwischen sehr gering. Etwa 15 von 20 Medikamenten würden in Puerto Rico hergestellt. Unter dem Slogan „A rational drug policy is possible“ warb Sofie Blancke für eine auf Nachfrage orientierte Medikamentenpolitik. Einer solchen sei es möglich, den Bedürfnissen gerecht zu werden. Sie plädiert also für eine Liberalisierung des Medikamentenmarktes gegen die Vorherrschaft der Patente. In Belgien hätte ihr Netzwerk auch schon Apotheker gewinnen können, da diese unter dem unüberschaubaren Medikamentendschungel leiden würden.
Amal Sabri stellte die internationalen Abkommen TRIPS und TRIPS plus dar. Die internationale Kooperation ermögliche es mehr und mehr, dass öffentliche Güter dem Markt anheim fallen würden. Das würde nicht nur den Umfang der Güter, sondern auch der Länder umfassen. Damit würde sich in der Kontrolle des Medikamentenmarktes alles auf wenige so genannte transnationale Konzerne (TNCs) konzentrieren. Das würde das Saatgut ebenso betreffen wie traditionelles Wissen. Neben den beiden großen Abkommen würde es zunehmend auch unbekannte Abkommen zwischen entwickelten und nicht-entwickelten Ländern geben. Die Macht der TNCs und der entwickelten Ländern würden den Trikont nach und nach in ein Freihandelsnetz ziehen, das traditionelle Ökonomien gefährde und die Grundlage für billige und nützliche Medikamente unterminiere.
Kostas Diakos machte die Homöopathie als eine alternative Medizin von Unten stark.
In diesem am Freitag Vormittag ausgerichteten workshop, der in fünf Sprachen übersetzt wurde (I, E, F, Gr, D) nahmen ca. 70 Menschen teil, die zu einem großen Teil auch schon zuvor auf den Seminaren und Workshops der PHM-REDS-Schiene (People’s Heath Movement und Red d‘ Europe pour la Defence de la Santé) waren. Dadurch konnten auch Bezüge zu anderen, bereits angeschnittenen Themenbereichen hergestellt werden.

DFG-Projekt: Bundesweite Online-Informationsplattform zum Thema Open Access

Seit September 2006 fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Erstellung einer bundesweiten Informationsplattform zu Open Access, die kooperativ von den Universitäten Bielefeld, Göttingen, Konstanz und der Freien Universität Berlin betrieben wird, unterstützt durch die Deutsche Initiative für Netzwerkinformation (DINI).
http://www.openaccess-germany.de/
Durch die Plattform sollen Wissenschaftler, deren Fachverbände, Universitätsleitungen sowie die interessierte Öffentlichkeit umfassend über Ziele und Einsatz von Open Access informiert und mit praxisnahen Handreichungen bei der konkreten Umsetzung unterstützt werden.

Unter Open-Access-Publikationen versteht man weltweit frei zugängliche wissenschaftliche Veröffentlichungen im Internet. Ziel der Open-Access-Bewegung ist eine stärkere Nutzung dieser Publikationsform, um so die Verbreitung und Nutzung wissenschaftlichen Wissens zu maximieren. Die Rezeption von Open-Access-Publikationen ist in der Regel, wie neuere Studien zeigen [1], schon heute um ein Vielfaches höher als bei traditionell kostenpflichtigen Veröffentlichungen. Dies bedeutet für die einzelnen Autoren und Autorinnen, aber auch für deren Institutionen eine nachweisbar bessere „Sichtbarkeit“ in der internationalen Scientific Community. Die Unterzeichnung der „Berliner Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen“ [2] durch zahlreiche nationale und internationale Wissenschafts- und Fördereinrichtungen und eine wachsende Zahl an Universitäten unterstreicht die gesamtwissenschaftspolitische Bedeutung von Open Access.

Eine Umfrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Erfahrung von Autorinnen und Autoren mit Open Access [3] zeigt zwar eine noch geringe Nutzung von Open-Access-Publikationsmöglichkeiten, doch eine große Bereitschaft zur aktiven Förderung des Open Access in Deutschland. Deshalb fordert die DFG als Mit-Unterzeichner der „Berliner Erklärung“ – wie viele andere nationale Fördereinrichtungen – alle Projektnehmer explizit zur Veröffentlichung in referierten Open-Access-Zeitschriften oder zum Verfügbarmachen von digitalen Kopien auf Open-Access-Servern auf.

Informationen zu Open Access fanden sich bisher lediglich unkoordiniert erstellt und zum Teil weit verstreut im Internet bzw. waren vom persönlichen Engagement Einzelner vor Ort abhängig. Diese Tatsache ist mit verantwortlich für die Diskrepanz zwischen der wachsenden internationalen Bedeutung von Open Access einerseits und der vergleichsweise geringen Bekanntheit und Praxis bei den deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern andererseits.

Das Ziel der neuen Open-Access-Informationsplattform ist es, dieser Entwicklung in Deutschland entgegenzuwirken. Das Angebot richtet sich in erster Linie an wissenschaftliche Autoren und Autorinnen, Hochschulleitungen und Fachgesellschaften. Derzeitige Informations- und Nutzungsdefizite in der deutschen Hochschullandschaft sollen durch die zielgruppenspezifische Aufbereitung relevanter Informationen zu Open Access ausgeräumt werden. Schwerpunkte der Informationsplattform sollen zudem konkrete Handlungsempfehlungen und Argumentationshilfen sowie die Vermittlung und der Austausch von praktischen Erfahrungen sowie Materialien zu Open Access sein.

Die vier Projektpartner gehören zu den Vorreitern auf dem Gebiet des Open Access in Deutschland. Nach ihrer Fertigstellung im Mai 2007 wird die Online-Plattform allen interessierten Nutzern und Nutzerinnen sowie zusätzlichen Kooperationspartnern zum Informations- und Erfahrungsaustausch zur Verfügung stehen. Die Deutsche Initiative für Netzwerkinformation sieht in dem neuen Informationsangebot eine Chance, die einschlägigen Open-Access-Aktivitäten von DINI noch breiter bekannt zu machen. Plattformentwicklung und Betrieb werden daher durch DINI mit getragen.

Mehr Informationen finden Sie auf der Internetseite des Projekts http://www.openaccess-germany.de oder über die Koordinatoren:

Dr. Norbert Lossau (Direktor der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Projektleiter), norbert.lossau@sub.uni-goettingen.de

Cordula Nötzelmann (Koordination wissenschaftliches Publizieren, Universität Bielefeld), cordula.noetzelmann@uni-bielefeld.de

Dr. Katja Mruck (Koordination e-Publishing, Open Access, Center für Digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität Berlin), katja.mruck@fu-berlin.de

Karlheinz Pappenberger (Koordination wissenschaftliches Publizieren, Universität Konstanz), Karlheinz.Pappenberger@uni-konstanz.de

[1] (http://opcit.eprints.org/oacitation-biblio.html)
[2] (http://oa.mpg.de/openaccess-berlin/signatories.html)
[3] (http://www.dfg.de/dfg_im_profil/zahlen_und_fakten/statistisches_berichtswesen/open_access/index.html)

Copyfight!

Copyfight! ist ein kollaboratives Redaktionssystem zur Herstellung von Fernsehprogrammen. Die Software besteht aus einer Internetschnittstelle, einem Filmarchiv und einem Interface für die Programmgestaltung.

Unter der Verwendung von Medieninhalten aus dem Internet und P2P-Netzwerken ermöglicht Copyfight! einer kleinen Gemeinschaft einen lokalen Fernsehsender zu betreiben. Über ein Webinterface bestimmen die Fernsehzuschauer den Inhalt ihres Senders. Ein Experimentierfeld zwischen den Medien Fernsehen und Internet entsteht.

Copyfight! soll eine Ausgangslage schaffen, damit auch die Partizipation von Fernsehzuschauern als Produzenten und Programmgestalter gewährleistet ist. Die Gestaltung des Projektes zielt auf eine Politik des freien Zugangs und Austausches.

Die Software von Copyfight! ähnelt in ihrer Struktur und ihrem Sinn einigen Tools, welche im Verlaufe der Neunzigerjahre für offene Radiostationen oder Piratenradio-Sender entwickelt wurden. Diese netzgestützten Tools hatten das Ziel, die Ausübung der aktiven Medienfreiheit wesentlich zu vereinfachen.

ppg heisst jetzt p/oeg – sonst aendert sich nix!

Die Redaktion (ja, sowas gibt’s hier mittlerweile) hat beschlossen, eine neue Selbstbezeichnung einzuführen. Auch wenn ein Namenswechsel immer das Risiko des Imageverlusts beinhaltet, so schien uns eine sinnvollere und transparentere Abkürzung notwendig.
Englischsprachig heißt das Netzwerk weiterhin P/PG, was für „Privatization/Public Goods“ steht.
In deutscher Sprache heißt das Netzwerk ab sofort: P/ÖG, was entsprechend für „Privatisierung/Öffentliche Güter“ steht.

US-Bewegungs-Netzwerk kurz vorgestellt: "Reclaim the Commons"

Ursprünglich entstanden 2004 als Gegenmobilisierung gegen die jährliche Bio-Tech-Tagung der Biotechnology Industry Organization (BIO), ist Reclaim the Commons mittlerweile zu einer Bewegung in den USA geworden, die selbst Akzente setzt und auch weiterhin Mobilisierung gegen die Gipfel der Industrielobbies und der G-8 betreibt. Einzelheiten dazu in der Selbstdarstellung von Reclaim the Commons auf deren Homepage.

Veranstaltung am 9.5.06 in Berlin

Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, der Umweltbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz und das Gen-ethische Netzwerk laden ein:
Gentech-Anbau in Brandenburg – Was droht? Erfahrungen aus Kanada – aktuelle Situation in Brandenburg
mit Percy Schmeiser (kanadischer Landwirt, in englischer Sprache mit Übersetzung) und Nora Mannhardt (Aktionsbündnis gentechnikfreies Berlin/Brandenburg)
am Dienstag, 9.5.2006 um 19:00 Uhr
im „Umweltforum Berlin“ (Alte Mälzerei)
10249 Berlin-Mitte, Friedensstrasse 91. ( http://www.umweltforum-berlin.de )

Percy Schmeiser spricht in Englisch, die Veranstaltung wird übersetzt.

Aus dem Einladungstext

Brandenburg ist in Deutschland das Land, in dem die transgenen Saaten ausgebracht werden. Für dieses Jahr sind etwa 800 Hektar (Deutschland ca. 1.700 ha) angemeldet. Die Situation in Brandenburg wird Nora Mannhardt vom Aktionsbündnis gentechnikfreies Berlin und Brandenburg darstellen. Was sind möglicher Gründe, wie organisiert sich der Widerstand?

Die Koexistenz konventioneller, ökologischer und gentechnisch veränderter Nutzpflanzen ist nicht möglich. Dies zeigen die Erfahrungen mit Kontaminationen in Kanada. Dort wird es vermutlich niemals mehr möglich sein, gentechnikfrei zu produzieren. Einige der dortigen Landwirte hat dies schon an den Rand des Ruins getrieben.

Percy Schmeiser, kanadischer Rapsbauer, berichtet über 10 Jahre Gentech-Anbau in Kanada und zeigt die Praktiken der Gentechnik-Konzerne auf. Schmeisser hatte den Gentechnik-Konzern Monsanto wegen Kontamination seiner Felder verklagt. Weil die kanadische Regierung und die Justiz voll auf der Seite der Gentechnik-Konzerne stehen, wurde in seinem und in vielen anderen Fällen gegen geltendes Recht und zugunsten der Industrie entschieden.

Der Fall verdeutlicht auch die Zusammenhänge zwischen Koexistenz, Kontamination und den so genannten Schutzrechten an geistigem Eigentum, das heißt der Patentierung – das heißt der Privatisierung von Saatgut.

Kanadische Farmer bringen Gentechnik vor UN-Menschenrechtsausschuss: Nun erhebt der kanadische Farmer Percy Schmeiser vor dem UN-Ausschuss für Menschenrechte in Genf Klage gegen die kanadische Regierung wegen Menschenrechtsverletzungen durch die Gentechnik in der kanadischen Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion (Stichtag 1. Mai 2006).

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*In Kanada ist der Zug gentechnikfreier Produktion bereits abgefahren – aber bei uns ist es noch nicht zu spät!*
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Hier ein Interview mit Percy Schmeiser aus der Mitgliederzeitschrift Umweltnachrichten (Dez. 2005) des Umweltinstitutes München. Das Interview führte Andreas Bauer.

Interview mit Landwirt Percy Schmeiser: „Eine ökonomische Katastrophe”

Im August 1998 verklagte der Gentechnik-Konzern Monsanto den kanadischen Bauer Percy Schmeiser, gentechnisch verändertes patentiertes Raps-Saatgut widerrechtlich angebaut zu haben: Schmeisers konventionelle und die Bio-Felder seiner Frau waren von genverändertem Saatgut verunreinigt. Zwei Gerichte verurteilten ihn zu einem Schadensersatz in Höhe von 100.000 Euro. Erst das oberste kanadische Bundesgericht stoppte den Konzern im Jahr 2004: Schmeiser wurde von Schadensersatzforderungen an den Konzern freigesprochen. Doch gleichzeitig befand das Gericht, dass Monsanto grundsätzlich im Recht sei und die Patentansprüche des Konzerns auch für kontaminierte Äcker gälten. 2005 hat Percy Schmeiser Gegenklage gegen Monsanto eingereicht, wegen Umweltverschmutzung und Zerstörung von Schmeisers gentechnikfreier Saatgutzüchtung.

Umweltinstitut München e.V. (UIM): Mr. Schmeiser, wie sind Ihre derzeitigen Beziehungen zu Monsanto?
Schmeiser: Ziemlich angespannt. Monsanto versuchte während der letzten Jahre, mich als Person zu diskreditieren, sowohl in den Medien als auch in meiner persönlichen Umgebung. Und das macht Monsanto nach wie vor. Zum anderen versuchen sie jetzt, mich mit Hilfe einer Knebel-Anordnung, der so genannten „Gag-Order“, ruhig zu stellen. Das ist eine Art gerichtlich verhängtes Redeverbot. Dadurch wäre mir das Recht genommen, über Monsanto zu sprechen. Dabei ist das einzige, was ich tue, darüber zu berichten, dass Monsanto mein gesamtes Ackerland kontaminiert hat.

UIM: Dagegen haben Sie jetzt Klage eingereicht.
Schmeiser: Ja, aber leider agiert Monsanto jetzt bösartiger als je zuvor. Der Grund ist meiner Meinung nach, dass der Konzern allein im letzten Quartal 125 Millionen US-Dollar Verlust gemacht hat. Und zwar ausschließlich deshalb, weil es sich, wie ein Journalist geschrieben hat, um eines der meistgehassten Unternehmen der Welt handelt, ein Unternehmen, das zentral an der Eliminierung der Rechte der Bäuerinnen und Bauern, und der Redefreiheit auf der ganzen Welt beteiligt ist. Letztes Jahr wurde Monsanto für die Dauer von zwei Jahren die Geschäftsausübung in Indonesien verboten, weil der Konzern für eine schnelle Zulassung von gentechnisch veränderten Pflanzen die Behörden bestochen hatte. Auch in anderen Ländern gab es Korruption im Zusammenhang mit der Vermarktung von Monsantos Gen-Pflanzen.

UIM: Weswegen genau klagen Sie Monsanto an?
Schmeiser: Die erste Klage bezieht sich auf die Haftung für die Verunreinigung meiner Felder mit Genraps in den Jahren 1997 und 1998. Ich fordere Schadensersatz für die Zerstörung meines selbstentwickelten Raps-Saatguts, in dem 50 Jahre Forschung und Entwicklung stecken.
Vor zwei Monaten stellte ich zudem eine erneute Kontamination meiner Felder fest. Ich versuchte, Monsanto dazu zu bewegen, die Genrapspflanzen von meinem Feld zu entfernen. Monsanto war dazu nur unter der Bedingung bereit, dass ich einen so genannten „Release“ -Vertrag unterzeichne. Damit hätte ich allerdings für alle Zeiten Grundrechte, wie das auf freie Meinungsäußerung, an Monsanto verkauft. Der Vertrag hätte besagt, dass ich Monsanto nie wieder verklagen darf. Zweitens hätte ich auch alle bereits eingereichten Klagen gegen Monsanto zurückziehen müssen. Drittens hätte ich Zeit meines Lebens mit keinem Menschen mehr über Monsanto sprechen dürfen.
Zusätzlich hätte mir der Vertrag verboten, Raps und verwandte Arten, also zum Beispiel Senf, anzubauen. Denn Monsanto weiß, dass es dadurch erneut zu Kontaminationen meiner Felder durch gentechnisch veränderte Rapspollen kommen würde, der auch in verwandte Arten, wie eben Senf, auskreuzen kann. Kurzum, ich hätte sämtliche demokratische Rechte an der Eingangstür von Monsanto abgegeben. Ich bin Besitzer des Landes, ich zahle Steuern dafür, und alle Rechte dafür sollen an Monsanto gehen?
Wenn ich nach St. Louis, zur Konzernzentrale von Monsanto, fahren würde, um ihre Freilandversuche zu kontaminieren, und danach die Rechte auf diese Pflanzen reklamieren würde, hätte ich nach spätestens 24 Stunden ein Verfahren am Hals, das damit enden würde, dass man mich bis ans Ende meiner Tage einsperren würde.
Das Problem ist nach wie vor, dass die Menschen nicht darüber informiert sind, was passiert. In Kanada kann aufgrund der gentechnischen Verunreinigungen keine biologische Soja und kein biologischer Raps mehr angebaut werden. Das Grundrecht der Wahlfreiheit der Bauern ist zerstört.

UIM: Welche ökonomischen Auswirkungen hat der Anbau von Genpflanzen in Kanada?
Schmeiser: Der Anbau ist eine ökonomische Katastrophe. Viele Länder kaufen keine kanadischen Produkte mehr, die in irgendeinem Zusammenhang mit Raps oder Soja stehen könnten. Das betrifft neben den Bauern natürlich auch die nachgelagerten Industrien, also die Lebensmittelverarbeitung. Darüber hinaus kommt es zu einer Art Dominoeffekt: Auch die Nachfrage nach anderem Getreide aus Kanada ist zurückgegangen. Ganz konkret passiert folgendes: Die Rapserträge der kanadischen Bauern sind zurückgegangen, die Erträge sind von geringerer Qualität, für die Produktion müssen mehr Pestizide eingesetzt werden und das Einkommen der Bauern ist stark zurückgegangen. Durch die flächendeckende Kontamination ist auch die Wahlfreiheit der Bauern verloren.

UIM: Wie sieht es mit der sozialen Struktur in den ländlichen Gebieten aus? Hat sich auch diese durch den Anbau von GVO verändert?
Schmeiser: Auch das soziale Gefüge ist entgleist. Durch die Lizenzverträge mit Monsanto verlieren die Bauern das Grundrecht auf Redefreiheit. Die gesetzliche Lage verstärkt ihre Rechtlosigkeit noch zusätzlich. Sie müssen sehen, dass ein Bauer in Kanada in dem Moment schuldig gesprochen werden kann, wenn Monsantos Genraps auf seinem Feld gefunden wird. In meinem Fall hat das Gericht geurteilt, dass ein Bauer verpflichtet ist zu wissen, ob seine Ernte, sein Saatgut, oder sein Land mit Monsantos Genpflanzen kontaminiert ist. Wenn er nicht gentechnisch verändertes Saatgut aus einem Teil seiner Ernte anbaut, das mit Monsantos Genraps verunreinigt ist, verletzt er damit automatisch Monsantos Patent und kann von dem Konzern verklagt werden. Der einzige Ausweg besteht darin, gleich Monsantos Raps anzubauen. Denn in dem Moment, in dem sich Monsantos Gene auf seinem Feld befinden, kann Monsanto ihn dazu zwingen, seine gesamte Ernte zu vernichten. Wie soll ein Bauer wissen, ob sich Monsantos Raps auf seinem Feld befindet? Die einzige Möglichkeit, die er hat, ist sein Feld mit Roundup zu spritzen: Wenn 98 Prozent seiner Pflanzen sterben, und zwei Prozent überleben, weiß der Bauer, dass zwei von 100 Pflanzen kontaminiert sind. Doch es gibt keinerlei Toleranz. Selbst eine einzige Pflanze würde genügen, um alle Rechte an Monsanto zu verlieren. Das Gericht sprach im Urteil meines Falls davon, dass die „bloße Anwesenheit“ von Monsantos patentierten Genpflanzen auf meinem Acker ausreichen würde, um Monsantos Ansprüche zu rechtfertigen. Der oberste kanadische Gerichtshof urteilte auch, dass es bedeutungslos sei, wie es zu der Verunreinigung der Felder kommt.

UIM: Hat sich auch das Verhältnis der Landwirte untereinander verändert?
Schmeiser: Natürlich. Es ist ein starkes Misstrauen gegeneinander entstanden. Der Grund ist, dass Monsanto Bauern oder andere Leute dafür belohnt, wenn sie z.B. einen Nachbarn anzeigen. Zudem besitzt Monsanto eigene „Polizei“-Kräfte, welche die Menschen auf dem Land aushorchen. Ich erzähle ihnen ein Beispiel aus meinem Dorf: An Tankstellen in Kanada werden auch Pestizide verkauft. Monsantos Leute gingen also zu einer Tankstelle in meinem Dorf und sagten dem Besitzer: „Sprich mit den Bauern, frag sie ob sie Raps gepflanzt haben. Falls sie Raps anbauen, frag sie, wie viele Hektar. Dann gib uns diese Informationen weiter.“ Im Gegenzug bekam der Tankstellenbesitzer gute Konditionen und Rabatte beim Einkauf der Pestizide von Monsanto. Das ist ein Weg, wie Monsanto an Informationen kommt. Seit diese Geschichte bei mir im Dorf herauskam, tanke ich natürlich woanders.

UIM: Können Sie noch von weiteren Fällen berichten?
Schmeiser: Es gibt viele bekannte Fälle. Einem befreundeten Geschäftsmann, der auch Bauer ist, passierte folgendes: Er baute 200 acre (80 ha) von Monsantos Genraps an und schloss mit dem Unternehmen einen so genannten Technologie-Vertrag über diese Fläche ab. Dieser sieht vor, dass ein Bauer pro acre 15 kanadische Dollar Patentgebühren an Monsanto zahlen muss. Bei seiner Versicherung waren die entsprechenden Flächen jedoch mit 208 acre veranschlagt. Monsantos Spitzel müssen auf irgendeine Weise Zugang zu diesen Unterlagen bekommen haben. Es fehlten also acht acre, und laut dem Technologie-Vertrag hatte er damit eine Lizenzgebühr von 15 Dollar pro acre unterschlagen, was einem „Gesamtschaden“ von 120 Dollar entspricht. Monsanto wollte jedoch eine Strafgebühr von 200 Dollar pro acre kassieren, die mein Bekannter natürlich nicht zahlen konnte. Monsanto verlangte nun für einen Verzicht auf ein Strafverfahren, dass mein Bekannter ebenfalls Spitzeldienste übernehmen sollte und Nachbarn melden, die von Kontaminationen wussten, diese aber aus Angst vor den finanziellen Forderungen Monsantos nicht melden wollten. Er ist darauf eingegangen, hat aber nie jemanden gemeldet.
Ich erzähle Ihnen noch von einem dritten Fall: Wenn Sie in Kanada Getreide verkaufen, müssen Sie Aufzeichnungen darüber in einem Buch dokumentieren. Dieses Buch ist Privatbesitz des Bauern. Da diese Aufzeichnungen von großer Wichtigkeit sind, hinterlegen es viele Bauern im Safe des örtlichen Getreidehändlers. Monsanto lädt nun diese Getreidehändler zu Wochendausflügen oder zum Essen ein und kommt so schließ-lich in den Besitz der Aufzeichnungen. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, was diese Vorfälle mit dem sozialen Netz auf dem Land anrichten.

UIM: Der Presse kann man entnehmen, dass sich kanadische Bauern, vor allem Biobauern inzwischen wehren. Sie haben Genkonzerne wie Monsanto und Bayer verklagt. Wie beurteilen Sie die Aussichten, dass die Konzerne schuldig gesprochen werden?
Schmeiser: Die Vereinigung der Biobauern aus Saskatchewan (das Saskatchewan Organic Directorate) hat Monsanto und Bayer wegen der Kontaminationen auf Schadensersatz verklagt. Die Klage bezieht sich auf die Haftung für entstandene ökonomische Schäden, vor allem den Verlust von Exportmöglichkeiten, da kein biologischer Raps mehr angebaut werden kann. In erster Instanz haben die Bauern den Prozess verloren. Im Moment droht er bereits an der Frage zu scheitern, ob die Bio-Bauern als Vereinigung überhaupt das Recht haben, diese Klage einzureichen. Monsanto versucht den Prozess zu verschleppen. Schon jetzt hat er die Bio-Bauern 300.000 Dollar gekostet. Allein für die Frage nach der Zulässigkeit der Klage sind drei Jahre ins Land gegangen.

UIM: Welche Rolle spielt eigentlich die kanadische Regierung?
Schmeiser: Die kanadische Regierung unterstützt die Gentechnikindustrie bedingungslos. Monsanto arbeitet mit den zuständigen Behörden, z.B. der Lebensmittel- oder der Umweltbehörde, Hand in Hand. Ein Beispiel vom April 2004 mag Ihnen zeigen, wie eng die Verbindung ist. Monsanto stand damals kurz vor der Zulassung von gentechnisch verändertem Weizen. Dann kam heraus, dass die Regierung mit Monsanto ein Abkommen geschlossen hatte: In dem Vertrag stand, dass die Regierung für jedes Kilo Genweizen einen bestimmten Prozentsatz des Gewinns erhalten sollte.
Derzeit stehen wir in Kanada auch vor einer Überarbeitung der Saatgut-Gesetzgebung, dem Seed Sector Review. Die Vorschläge der Gentechnikindustrie für dieses Gesetz wurden bislang nur noch nicht umgesetzt, weil Wahlen bevorstanden. Mit diesem Gesetz würde die Saatgutindustrie die totale Kontrolle über die Landwirtschaft übernehmen. Denn der zentrale Punkt des Gesetzes ist, dass es den Nachbau von gekauftem Saatgut schlichtweg verbietet. Dieser Passus bezieht sich nicht nur auf Getreide, sondern auch auf Gartenblumen oder Bäume. Damit würden nicht nur Bauern, sondern auch Gärtner und Forstwirte total entrechtet. Die Industrie versucht, dieses Gesetz ohne öffentliches Aufsehen durchzubekommen. Die Situation ist sehr ernst.
Und dennoch: Seit einigen Jahren stockt die Zulassung neuer Gentechnikpflanzen. Bis heute gibt es nur sehr wenige kommerzialisierte Arten, vor allem Raps, Mais, Soja und Baumwolle. Was die Einführung weiterer GVO verhindert hat, war nicht die Umweltproblematik und nicht die gesundheitlichen Effekte, sondern der grandiose ökonomische Misserfolg. Die Bauern merken langsam, dass sie betrogen wurden.

UIM: Warum wächst die Anbaufläche in Kanada dann nach wie vor? Warum bauen die Bauern überhaupt noch gentechnisch verändertes Saatgut an?
Schmeiser: Viele haben Angst. Sie wissen, dass sie von Monsanto jederzeit verklagt werden können, denn ihre Felder sind genauso kontaminiert wie meine. Der einzige Ausweg sich vor Klagen zu schützen ist gleich Monsantos Genpflanzen anzubauen.

Das Interview führte unser Mitarbeiter Andreas Bauer.
Erschienen in unserer Mitgliederzeitschrift Umweltnachrichten, Ausgabe 102 / Dez. 2005

„Was damit geschaffen wird, ist eine Kultur der Angst“
Am 28. Oktober 2005 hielt Percy Schmeiser in Zürich den Vortrag, denn Sie hier ( http://www.umweltinstitut.org/download/vortrag_schmeiser_zuerich_okt2005.pdf ) als PDF-Datei herunterladen können.

Technologievertrag in Originalfassung und übersetzt als PDF-Datei zum Herunterladen ( http://www.umweltinstitut.org/download/technologievertrag_monsanto.pdf )

Modell Rostock

Seit Anfang der Woche geht unter den rund 1000 Beschäftigten des Lübecker Hafens die Angst um: Bürgermeister Bernd Saxe (SPD) hat die Privatisierung innerhalb von knapp zwei Jahren angekündigt.
Soll mit dem Verkauf der Lübecker Hafengesellschaft (LHG) das Tafelsilber der Hansestadt verscherbelt werden? Bürgermeister Bernd Saxe weist diese Vermutung zurück und betont, es gehe nur darum, einen strategischen Partner zu finden. Von einem klassischen »Ausverkauf« könne nicht die Rede sein. Und doch: Saxe selbst wollte nicht ausschließen, dass bis zu 90 Prozent der LHG, an der die Stadt jetzt 99,98 Prozent hält, in andere Hände gehen. Dazu wolle man sich eines EU-weiten Bieterverfahrens bedienen, kündigte er an.
Gerade hier ist die Gewerkschaft ver.di skeptisch. Man hat das »Heuschrecken«-Beispiel des Rostocker Hafens vor Augen, der vor Jahren mit Geldern ausländischer Investoren herunter gewirtschaft wurde. »Es gab eine große Entlassungswelle, viele kleine Gesellschaften wurden gegründet und es gab viele Fälle von Tarifflucht«, weiß auch Alfred Skritulnieks, Betriebsratsvorsitzender der LHG.
Auch die Lübecker Regionalgruppe des globalisierungskritischen Netzwerks Attac ist skeptisch. Sprecher Andreas Beldowski warnt: »Aus den Erfahrungen der letzten Jahre ist zu erwarten, dass die Stadt ihre Politik den Bürgern mit völlig überzogenen Erwartungen schmackhaft machen will. Die Ernüchterung wird sich wie bei anderen Projekten – etwa die Privatisierung des öffentlichen Personennahverkehrs und der Stadtwerke – mit Garantie einstellen.«
Die Grünen der Hansestadt lehnen die Pläne des Bürgermeisters nicht grundsätzlich ab, wohl aber eine 90-prozentige Veräußerung. »Über eine Minderheitsbeteiligung würden wir mit uns reden lassen«, betont Susanne Hilbrecht, Grünen- Fraktionsvorsitzende der Bürgerschaft. SPD-Fraktionschef Peter Reinhardt verspricht indes: »Wir werden darauf achten, dass die Arbeitsplätze erhalten bleiben und die tariflichen Vereinbarungen langfristig bestehen bleiben.« Als Aufsichtsratsmitglied bei der LHG war er erbost, dass sein Parteigenossen Saxe Namen möglicher Interessenten öffentlich genannt hat, die nicht einmal im Aufsichtsrat erörtert wurden.
Während von der Bahn AG auf Nachfrage »kein Kommentar« zu hören ist, räumt die Hamburger Hafen und Logistik AG durchaus ein, dass eine Beteiligung in Lübeck eine Option sei – man hätte dann Zugang zur Ostsee. Ein möglicher Interessent soll auch die in Lübeck ansässige Possehl-Gruppe sein, ein Konsortium von 50 mittelständischen Firmen. Auch über skandinavische Finanziers wird spekuliert. Am 30. März wird im nichtöffentlichen Teil der Bürgerschaftssitzung hierüber debattiert.
Am Lübecker Hafen hängen infrastrukturell in der Region weitere 5000 Arbeitsplätze. Er ist europaweit die Nummer 2 für Papier- und Zellulose-Umschlag nach Antwerpen. Zuletzt hat die LHG Jahr für Jahr schwarze Zahlen geschrieben. Doch bei 71 Millionen Euro Verbindlichkeiten und einem errechneten Bedarf von 110 Millionen Euro bis 2015 für eine Flächenerweiterung und zusätzliche Terminals ist die Kapitaldecke weggebrochen, da die Stadt keine Bürgschaften mehr für Investitionen übernehmen darf. Die Europäische Union untersagt dies.
Unabhängig vom Verkauf übt die LHG-Spitze derzeit Druck auf die Belegschaft aus. Man will die wöchentliche Arbeitszeit von 35 auf 39 Stunden erweitern, »um in der Konkurrenz zu Rostock bestehen zu können«, so der Vorsitzende der LHG-Geschäftsführung Manfred Evers.
Von Dieter Hanisch
Quelle: Neues Deutschland, 20.03.06

Kommentar der anderen: Rettet das soziale Europa

Markt schlägt Staat: eine simple Formel der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung – von Josef Weidenholzer
Die Welt ist ein einziges Einkaufszentrum geworden. Aus Durst wird weltweit Coca Cola, wie das Ivan Illich einmal ausgedrückt hat. Es werden aber nicht nur Gebrauchsgüter gehandelt. Sondern auch „öffentliche“ Güter: Also die Versorgung der Menschen mit Energie, kollektive Transportmittel, Postdienste, Telekommunikation, Radio und Fernsehen, Bildung, ja sogar soziale Dienstleistungen. Alles deutet darauf hin, dass die letzten Widerstände schwinden und sich diese Entwicklung wie eine gigantische Flutwelle über den Globus verbreitet. Die Nationalstaaten stehen dem Phänomen machtlos gegenüber, die Staatsmänner und -frauen wirken, als seien sie gelähmt.
Verlust an menschlicher Substanz
Markt schlägt Staat: Auf diese simple Formel, lässt sich die Entwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts bringen. Die Menschen reagieren zwiespältig. Zunächst genießen sie ihre Stellung als Konsumenten einer bislang ungeahnten Vielfalt von Produkten. Aber viele Zeitgenossen fühlen sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie fühlen instinktiv, dass die allgegenwärtige Ökonomisierung ihres Alltags zu einem Verlust an menschlicher Substanz und zur Aufgabe persönlicher Eigenart führt. Die Gesellschaft scheint zu Ich-AGs zu mutieren, nichts anderes als den eigenen Nutzen maximierend und das Heil im kurzfristigen Erfolg suchend. Die Mitbürger und Mitbürgerinnen sowie die Umwelt geraten so zu vernachlässigbaren Größen. Marktwirtschaft pur eben. Aber die Menschen streben nach sozialer Sicherheit, und nur eine funktionierende soziale Absicherung wird die Akzeptanz der Europäischen Union in der europäischen Bevölkerung heben.
Und das europäische Sozialmodell?
Ja, es gibt das viel zitierte europäische Sozialmodell, aber nur als Kanon gemeinsamer Werte. Zu unterschiedlich sind die einzelnen Systeme, zu unklar sind die Vorstellungen der Regierenden. Sound of Europe klingt wie ein miserabel dirigiertes Orchester, die Töne sind kakophonisch.
In der Typologie europäischer Sozialstaatlichkeit unterscheiden wir drei Idealtypen. Der residuale Wohlfahrtsstaat ist eine angelsächsische Erscheinung und verdient eigentlich nur eingeschränkt das Label Wohlfahrtsstaat, da die staatliche Sozialpolitik bloß als Ergänzung marktmäßiger, familiärer oder karitativer Aktivitäten gesehen wird. Der korporatistische Wohlfahrtsstaatstyp in Kontinentaleuropa versteht sich im Gegensatz dazu als subsidiär. Überall dort, wo der Markt, die Familie oder Gemeinschaften nicht in der Lage sind, soziale Risken abzusichern, tritt der Staat in die Verantwortung.
Nordische Sozialmodelle
Der universalistische Wohlfahrtsstaat ist das hervorstechende Merkmal der nordeuropäischen Staaten. Zielvorstellung ist ein hoher Standard hinsichtlich sozialer Sicherung zu erreichen. Merkmale dieses Typus sind neben der starken Rolle des Staates ein großes Volumen an staatlichen Transferzahlungen und die Priorität der Beschäftigungspolitik für jede Regierung. Südeuropa hat auch auf Grund der verspäteten Industrialisierung keine spezifische Sozialstaatlichkeit herausgebildet und Osteuropa ist noch immer ganz wesentlich von den Problemen des Übergangs zur Marktwirtschaft geprägt.
Vieles spricht dafür, dass Nordeuropa zum Vorbild für die künftige europäische Sozialpolitik werden könnte. Auch die EU-Bürokratie beginnt sich seit einiger Zeit der Vorzüge des nordischen Wegs bewusst zu werden.
Komplexer Zusammenhang
Entgegen neoliberaler Meinungsmache ist der Zusammenhang zwischen Wirtschaftsleistung und sozialer Sicherung ein sehr komplexer, der sich nicht durch simplifizierende Zurufe, a la „wer weniger für Soziales ausgibt, hat von vornherein eine bessere Wettbewerbsposition“, erklären lässt. So weist etwa der Index des World Economic Forum, der die Wettbewerbsfähigkeit misst, unter den Top 10 acht Staaten mit einem Anteil von über 25 Prozent Sozialausgaben am BIP aus. Spitzenreiter ist Finnland, auf den Plätzen drei, fünf und sechs folgen Schweden, Dänemark und Norwegen, Österreich nimmt den 17. Rang ein.
Kein Widerspruch
Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik stehen eben nicht grundsätzlich im Widerspruch. Ganz im Gegenteil, wie man im Norden Europas sieht, stellt Sozialpolitik einen wichtigen Produktivfaktor dar. Ein europäische Sozialmodell, das seinen Namen verdient, garantiert Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit, es verhindert die Spaltung der Gesellschaft, indem es soziale Grundrechte sichert und es trägt dazu bei, den Europagedanken bei den Bürgerinnen und Bürgern Europas zu verfestigen. Was die Vision eines friedlichen Europas, ohne Krieg und Grenzen für das ausgehende 20. Jahrhundert bedeutete, das soll die Vision eines europäischen Sozialmodells für das beginnende 21. Jahrhundert sein. Die Volkshilfe und ihre Partner geben allen Menschen die Möglichkeit, sich dafür einzusetzen. Im Rahmen der Kampagne „Save Our Social Europe“ können die BürgerInnen Europas 7 Punkte für ein soziales Europa unterstützen, mit ihrer Unterschrift auf www.soseurope.org.

Quelle: Der Standard, 28.02.2006
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Josef Weidenholzer ist Vizepräsident des europäischen Netzwerkes „solidar“, Präsident der Volkshilfe Österreich und Sozialwissenschafter an der Universität Linz

"European Rivers Network" & Wasser-Aneigung von Oben per Mega-Staudaemmen geht weiter

Das European Rivers Network (ERN) ist ein europäisches Informations- und Arbeitsnetzwerk von Organisationen und Einzelpersonen für den Schutz der Flüsse. Ziel von ERN ist es, Vereine und Organisationen zu vernetzen und die Kommunikation zwischen diesen Organisationen zu verbessern (Umwelt- , Kultur-, Menschenrechts- und Bildungsorganisationen) und Sensibilisierungskampagnen zugunsten lebendiger Flüsse durchzuführen. ERN unterstützt das nachhaltige, vernünftige Management von lebendigen Flüssen im Gegensatz zur Ausbeutung, Verschmutzung und Degradation, die oft Folge des bisherigen Wasserbaues war. ERN hat einen Newsticker in drei Sprachen, der auch die Wasserprivatisierungsthematik beinhaltet.

Dokumentation eines taz-Artikels:

„Megawasserprojekte, die soziale und ökologische Probleme verschärfen, sollen nicht mehr gebaut werden. Das schlug eine internationale Kommission schon vor fünf Jahren vor. Heute zeigt sich: Daran halten sich nur wenige, auch Deutschland nicht.

Alle Mega-Staudämme haben enorme ökologische und soziale Folgen: der Drei-Schluchten-Staudamm in China, die Narmada-Staudämme in Indien und das Atatürk-Staudammprojekt im Südosten der Türkei. Vor genau fünf Jahren wurden daher von der Weltstaudammkommission (WCD) Richtlinien für den Staudammbau vorgelegt. Diese sollen die negativen Folgen abschwächen.

Danach wurde der Industrie, den Regierungen und den Finanziers empfohlen, die Betroffenen stärker zu berücksichtigen und Alternativen zu Staudämmen zu entwickeln. Doch diese Richtlinien spielen etwa bei der Kreditvergabe für neue Dämme kaum eine Rolle, mahnt jetzt das International Rivers Network (IRN). Es hat für heute Vertreter aus Banken, Regierungen, Wirtschaft und Nichtregierungsorganisationen zu einer internationalen Tagung nach Berlin geladen.

Weltweite Proteste führten 1997 dazu, dass die Weltstaudammkommission (Worldcommission on Dams, WCD) ins Leben gerufen wurde. Sie setzte sich aus Betroffenen und aus VertreterInnen aus Regierungen, Industrie, Verbänden und Wissenschaft zusammen. Zwei Jahre lang untersuchte die Kommission die Kosten und Nutzen von Großdämmen. Sie traf Personen, die über brutale Vertreibungen sowie mangelnde Entschädigung der Betroffenen berichteten. Die Richtlinien, die die Experten daraufhin erarbeiteten, sollten dafür sorgen, dass die Menschenrechte künftig stärker berücksichtigt werden.

Dennoch, so moniert der World Wildlife Fund, würden momentan 400 größere Staudämme gebaut – weitere sind geplant. Dabei sei bei vielen der Nutzen fraglich. „Die Staudammindustrie, die Weltbank und viele Regierungen wehren sich gegen den Einfluss, der den betroffenen Bevölkerungsgruppen eingeräumt werden soll“, bestätigt Ann Kathrin Schneider vom IRN. Besonders erstaunlich sei das Verhalten der Weltbank. Obwohl sie die Richtlinien offiziell mittrage, nehme sie die Standards bei ihrer Kreditvergabe nicht auf.

Auch die deutsche Position sei widersprüchlich. Offiziell habe die Regierung die Staudamm-Richtlinien anerkannt. Doch ist – zumal mit dem Regierungswechsel – unklar, inwieweit sie sich an sie hält. Beispiel 1: Der Bau des Ilisu-Staudamms am Tigris. Die deutsche Züblin ist am Baukonsortium beteiligt. Nun erwägt sie, die Außenwirtschaftsförderung bei der deutschen Regierung zu beantragen. Die Erfolgsaussichten gelten als gut.

Beispiel 2: Deutschland unterstützt den Nam-Theun-2-Staudamm in Laos. INR-Frau Schneider sagt: „Es wurde nicht ernsthaft geprüft, welche Alternativen zur Armutsbekämpfung es neben der Wasserkraft in Laos gab.“ Manfred Konukiewitz vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) will den Vorwurf allerdings nicht gelten lassen. „Es wird kontinuierlich geprüft, ob die Einnahmen aus dem Staudamm von Laos zur Armutsbekämpfung genutzt werden.“

http://www.irn.org/wcd/5/main.html

taz Nr. 7820 vom 15.11.2005, Seite 9, 101 von Ariane Brenssell“

Privatisierung des Uniklinikum Giessen-Marburg

Die Financial Times Deutschland berichtet:
Gesundheitswirtschaft: Klinisches Experiment
Es ist die Stunde der großen Gefühle. Als der hessische Ministerpräsident Roland Koch vor die Presse tritt, um zu verkünden, dass das Universitätsklinikum Gießen-Marburg privatisiert wird, sagt er, der Standort werde künftig europaweit in einer anderen Liga spielen.
Bei dem Unternehmen, das den Zuschlag für die bundesweit erste Privatisierung dieser Art erhält, ist die Euphorie nicht minder groß. „Wir werden das Uniklinikum Gießen-Marburg zum Flaggschiff des Konzerns machen“, sagte der Vorstandsvorsitzende des Rhön-Klinikums, Wolfgang Pföhler.
Ob diesen Gefühlen bald der Katzenjammer folgt oder sich das Vorzeigeprojekt zur Erfolgsgeschichte entwickelt, darauf blickt nicht nur die Klinikbranche mit großer Spannung. Eines ist klar: Die Unikliniken können nicht mehr weiterwirtschaften wie bisher. Zwei Drittel der derzeit 34 Häuser schreiben rote Zahlen, die Zukunftsaussichten sind düster. Ihnen bleibt nur eine Chance: die Flucht nach vorn.
Noch gilt es in der Politik als Tabubruch, einen privaten Investor ins Allerheiligste der deutschen Medizin zu holen. Kritiker sehen die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre in Gefahr, Mitarbeitervertreter und Gewerkschafter bangen um Stellen. Verdi kritisiert die Entscheidung der Landesregierung als „neue Qualität des Ausverkaufs staatlicher Leistungen“.

Finanzieller Abgrund
Dass die Situation ernst ist, wird allerdings selbst von den Kritikern eingeräumt. Die Universitätskliniken stehen vor dem finanziellen Abgrund. Allein durch die Abrechnung per Fallpauschalen gehen den Kliniken 450 bis 600 Mio. Euro verloren, schätzen Experten. Die Bundesländer, die selbst unter chronischer Geldnot leiden, können diese Lücken nicht stopfen.
Als Retter aus dem Siechtum bieten sich die privaten Klinikketten an. Sie sind begierig darauf, zu beweisen, dass sie nicht nur defizitäre Provinzkrankenhäuser übernehmen, sondern auch Hightech-Häuser aus dem Minus manövrieren können. „Das ist eine Sache des Prestiges“, sagt Analyst Hartmut Schmidt von HPS Research. Wer Zugang zur Hochleistungsmedizin hat, kann Spitzenkräfte an sich binden und sich eine gute Ausgangsposition für frisches Geld vom Kapitalmarkt verschaffen, um für weitere Akquisitionen gerüstet zu sein.
Was sich in Gießen und Marburg, den beiden nur 30 Kilometer voneinander entfernten Kliniken, in den vergangenen Jahren abspielte, ist symptomatisch für die gesamte Branche. Aus eigener Kraft gelang es den beiden Standorten nicht, sich aus dem Sumpf zu ziehen. In Gießen fehlte jahrelang Geld für Neubauten und Renovierungen, weil die öffentlichen Fördertöpfe leer waren. Ein Investitionsstau von mehr als 200 Mio. Euro baute sich auf. Zwischenzeitlich mussten sogar OP-Säle geschlossen werden, da die hygienischen Zustände zu wünschen übrig ließen.

Fusion und Bieterwettkampf
Marburg dagegen schrieb zuletzt schwarze Zahlen und verfügt über moderne Gebäude, konnte aber in der Spitzenforschung international nur in einigen Fachbereichen mithalten. Ende 2004 verkündete schließlich Ministerpräsident Koch, die beiden Häuser zu verschmelzen und bis Ende 2005 an einen privaten Investor zu verkaufen. Im Bieterwettkampf waren neben Rhön die Klinikketten Helios und Asklepios bis zuletzt im Rennen.
Für den Käufer Rhön-Klinikum, der 41 Krankenhäuser in Deutschland betreibt, gibt es nach der Entscheidung jede Menge Vorschusslorbeeren. Der Börsenkurs des MDax-Unternehmens kletterte nach oben. „Mit der Übernahme wird der Netzwerkgedanke bei Rhön entscheidend gestärkt“, sagt Analyst Christian Cohrs von der HypoVereinsbank in München.
Die Wachstumsstrategie von Rhön – bis 2015 will das Unternehmen seinen Marktanteil von heute drei Prozent auf bis zu zehn Prozent ausbauen – ist an den Aufbau von Versorgungsnetzen geknüpft. Die Krankenhauskette setzt auf so genannte Teleportalkliniken: Kleinere Krankenhäuser, vorwiegend auf dem Land, sind über Computer mit Spezialisten in anderen Häusern vernetzt. Die dortigen Experten erhalten Laborwerte oder Computertomografie-Bilder, mit Hilfe derer sie einen Befund erstellen. In diesem System ist ein Uniklinikum ein sehr attraktiver Baustein.
Von Stefanie Kreiss und Sabine Rössing
Aus der FTD vom 22.12.2005 >>> http://www.ftd.de/ub/gw/35816.html

Das Netzwerk ppg laedt ein: Internationale Jahrestagung "Linke Politik oeffentlicher Gueter"

Das Netzwerk Privatisierung/Öffentliche Güter (ppg) der Rosa-Luxemburg-Stiftung lädt ein zur internationalen Jahrestagung 2005 zum Thema „Linke Politik öffentlicher Güter“

am 16. Dezember 2005
10 – 18 Uhr
Franz-Mehring-Platz 1
4. Stock, Raum 445

Um Voranmeldung wird gebeten unter nuss@rosalux.de
Einführung und Programm:

„Linke Politik öffentlicher Güter“
Gesundheit, Bildung, Wissen oder Naturressourcen dienen dem Kapital auf dem Wege der Privatisierung oder Inwertsetzung zunehmend als Anlagesphäre. Diese so genannten Öffentlichen Güter sind in private Güter transformierbar und daher nicht durch ihre stofflichen Eigenschaften bestimmt. Die Art und Weise der Bereitstellung eines Gutes ist vielmehr Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzung im Kontext kapitalistischer Produktions- und Herrschaftsverhältnisse. Die Verwendung des Begriffs „öffentliche Güter“ ist daher bereits selbst schon Strategie. Sie richtet sich gegen das neoliberale Credo von der größeren Effizienz privater Eigentumsrechte. Sie will sagen: Die Welt ist keine Ware! Vor diesem Hintergrund soll danach gefragt werden, wie die Linke „öffentliche Güter“ erkämpfen und verteidigen kann.

Auf der Jahrestagung des Netzwerks ppg der Rosa-Luxemburg-Stiftung sollen daher konkrete Praktiken zur Verteidigung öffentlicher Güter vorgestellt werden, beispielsweise die Kämpfe um den Erhalt von Wasser als öffentliches Gut, alternative Eigentumsformen an digitalisiertem Wissen oder die Strategie einer „Aneignung von unten“. Die Relevanz von „Global Governance“ zur Verteidigung globaler öffentlicher Güter steht ebenso zur Debatte. In verschiedenen Beiträgen soll das Konzept der öffentlichen Güter selbst diskutiert werden und gefragt werden, ob und wie weit es trägt im Kampf gegen die zunehmende Inwertsetzung der Welt.
Das Programm:

10.00 – 11.45 Uhr
Gaye Yilmaz (Türkei)
Öffentliche Güter: eine konzeptionelle Annäherung und Alternativen
Jannis Milios (Griechenland)
Öffentliche Güter, gesamtgesellschaftliche Reproduktion und die Veränderung der sozialen Kräfteverhältnisse
11.45 – 12 Uhr Kaffeepause

12.00 – 13.45 Uhr
Philipp Terhorst (England)
Deprivatisierung von Wasser: Kollektiver Aufbruch zur gesellschaftlichen Gestaltung der Wasserversorgung?
David Berry / Giles Moss (England)
The Libre Commons

13.45 – 15.15 Uhr Mittagspause

15.15 – 16.45 Uhr
Michael Krätke (Niederlande)
Globale öffentliche Güter – der Testfall für „Global Governance“?
Alessandro Pelizzari (Schweiz)
Perspektiven gesellschaftlicher Aneignung

16.45 – 17.00 Uhr Kaffeepause

17.00 – 17.45 Uhr
Özgür Müftüoglu (Türkei)
Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen in historischer Klassenperspektive

Ein Riese bewegt sich

Bill Emmott, Chefredakteur des Londoner Wirtschaftsmagazins Economist, schrieb vor 16 Jahren ein vorausschauendes Buch. Sein Titel: Die Sonne geht auch unter. Darin analysierte der Journalist schon vor dem großen Börsencrash in Tokyo die Grenzen und Schwächen des japanischen Wirtschaftswunders. Vergangene Woche hat Emmott einen 18-seitigen Report in seiner Zeitung wieder Japan gewidmet. Die Überschrift diesmal: Die Sonne geht auch auf. Soll heißen: Japans Talfahrt ist vorbei. Emmott glaubt, das Land habe sich im Schneckentempo der letzten Jahre nachhaltig liberalisiert, die Hauptbürden der Vergangenheit – Korruption und die Tradition lebenslanger Beschäftigung – abgeschüttelt und stehe nun vor einer neuen Wachstumsphase.
Wie tiefgreifend sich Japan verändert hat, zeigt das Gesetz zur Privatisierung der staatlichen Post, das nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen am Dienstag vom Tokyoter Unterhaus gebilligt worden ist und am Freitag durch ein zweites Votum, diesmal durch das Oberhaus, endgültig verabschiedet werden soll. Der gesamte Wahlkampf bis Anfang September war in Japan von diesem Thema bestimmt. Und dieses Thema war es letztlich auch, das Junichiro Koizumi, dem entschiedensten Verfechter der Postprivatisierung, zu einer triumphalen Wiederwahl als Premierminister verholfen hat. Zwar mahnt Emmott in seinem Artikel vor zu hohen Erwartungen in Hinblick auf die Reform: »Die Privatisierung der Postsparkasse wird Japan nicht auf zauberhafte Art und Weise in eine Wachstumsökonomie verwandeln.« Dennoch ist sie für japanische Verhältnisse geradezu revolutionär.
Als Koizumi als junger Abgeordneter der praktisch ohne Unterbrechung regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) Anfang der achtziger Jahre erstmals die Postprivatisierung forderte, machte er sich damit zum Außenseiter in seiner Partei. Schließlich sicherte die sich dank der Post einen Großteil ihrer Macht im Lande. 1992, während einer Parteikrise, wurde Koizumi gleichwohl Postminister. Doch seit wann können Minister in Japan ihren Ministerialbeamten Befehle erteilen? Koizumi blieb als Minister einflusslos. 2001, während einer der zahlreichen Parteikrisen, wurde er Premierminister und nahm den Kampf auf. Doch wieder hielt die Partei ihn hin. Erst 2004 ging Koizumi aufs Ganze. Er beauftragte seinen besten Mann, Wirtschaftsminister Heizo Takenaka, mit der Vorbereitung der Privatisierung. Der zögerte nicht und entwarf ein so radikales Gesetz, dass die Partei es im Parlament Anfang August ablehnte. Koizumi tobte, berief Neuwahlen ein. Und gewann.

Sein Sieg gleicht einem Sieg Japans über sich selbst.
Bereits 1871 wurde die japanische Post im Zuge der ersten Anfänge der Öffnung Japans zum Westen gegründet. Damals übernahm die Armee das preußische Militärwesen. Manufakturen nach englischer Art wurden gegründet, und auch die neuen roten Briefkästen, die ihre Farbe nie änderten, folgten dem englischen Vorbild. Doch ansonsten blieb die Post von ihrer Gründung bis heute die traditionellste aller Institutionen im modernen japanischen Staatswesen.
Der Grund dafür liegt in der Konstruktion der Post. Die Regierung in Tokyo hatte die Gründung und Bestellung ihrer Postämter, anfangs mangels Geld und Infrastruktur, den alten Großgrundbesitzerfamilien übertragen. So wurde das Postamt zur informellen lokalen Herrschaftsinstanz im ländlichen Japan. Es blieb stets im Familienbesitz, gestützt von einem Franchising-System, in dem der Staat Löhne garantiert und die Vererbung der Konzession des Postbetriebs an nachfolgende Generationen erlaubt. Heute sind viele Amtsleiter bereits Diener des Staates in der dritten oder vierten Generation. Ihre Familien regieren Dörfer und Kleinstädte. Sie verwalten neben der Post den lokalen Wohlfahrtsverein und kümmern sich um alte Leute. Ihre Briefträger sind Seelsorger. Bei Bedarf führen sie den Wahlkampf der Liberaldemokraten. »Das Postamt in Japan ist wie die Kirche in Irland oder Polen«, sagt Kenneth Courtis, Vize-Präsident der US-Investmentbank Goldman Sachs in Tokyo.

18935 Ämter werden von Familien geführt – ihr Einfluss ist groß
Offiziell gliedert sich die Post in drei Geschäftsbereiche: in das Brief- und Paketgeschäft, die Postsparkasse als Anlageoption vor allem für die Klein- und mittleren Verdiener und den Verkauf von Lebensversicherungen. Was sie, im Gegensatz zur ehemals staatlichen deutschen Postbank, nicht darf: Kredite vergeben. Doch blieben die japanischen Sparer der Post treu, weil das Land immer wieder Pleiten privater Banken erlebte: erst in den 20iger Jahren, dann nach dem Krieg, zuletzt zu Beginn der neunziger Jahre. Bei der Post, so glauben die Japaner unverändert, ist ihr Geld am sichersten aufgehoben. Wenngleich immer noch Milliarden unter der Bettmatratze, sprich: unter dem Tatami verwahrt werden.
Postämter sind in Japan so verbreitet wie Sushi-Läden. 18935 »speziell« genannte Postämter, die auf dem alten Großgrundbesitzermodell basieren, zählt das Land. 4470 Ämter gründen auf Landkooperativen, nur 1310 weitere wurden vom Staat selbst in den großen Städten errichtet. »Seit 1871 sorgt die Post für den Zugang zu Informationen, Warentransport, Finanzen und Verwaltung. Sie ist die Basis des Lebens. Sie ist fürs Volk und die lokale Gemeinschaft wie die Luft, die man zum Leben braucht.« Das ist der Anspruch, wie ihn die japanische Post mit ihren 400000 Angestellten noch heute in einer Werbebroschüre formuliert.

3,4 Billionen Dollar Einlagen – eine Geldquelle für die Regierung
Die enge Verbindung zwischen Politik und Post resultiert aus dem zweiten Weltkrieg. Das Finanzministerium war in den Jahren der Kampfhandlungen angehalten, unermesslich große Summen in die Rüstung zu pumpen. Deshalb wurde die Postsparkasse gezwungen, mit ihren Spareinlagen diese Milliardenausgaben über den Kauf von Staatsanleihen zu finanzieren. Das System war so erfolgreich, dass es nach dem Krieg fortgesetzt wurde. Seither verfügt Japan über einen »zweiten Staatshaushalt«, wie es im Jargon des Tokyoter Finanzministeriums heißt. Bis heute ist die Post der größte Abnehmer japanischer Staatsanleihen. Eine nahezu unversiegbare Geldquelle für die Regierenden.
Denn die japanische Postsparkasse ist seit Jahrzehnten die größte Bank der Welt. Heute verfügt sie mit Einlagen von 3,4 Billionen Dollar über mehr als ein Drittel aller Spar- und Lebensversicherungseinlagen in Japan. Das entspricht rund zwei Dritteln des Bruttosozialprodukts in der immerhin zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt. Über die Verwendung dieser Summen entschied bis 2001 allein das Finanzministerium. Es ließ mit dem »zweiten Haushalt« Brücken und Straßen bauen, zwei Drittel der japanischen Küste wurden einzementiert, jede Großstadt bekam ein Fußballstadion, jede Kleinstadt eine Mehrzweckhalle. Politiker durften sich für diese Taten rühmen und die Bauunternehmen für die Aufträge bedanken. »Der japanische Finanzsozialismus finanzierte sich über Postsparkasse und Postversicherung«, sagt Jesper Koll, Chefökonom der US-Investmentbank Merrill Lynch in Tokyo.
Schuldner der Postsparkasse ist allein der Staat. Im Prinzip kann Japan damit leben. Als größte Kreditgebernation der Welt, die heute wieder über gesundetes Bankensystem verfügt, steht Tokyo derzeit finanzpolitisch nicht unter Druck. Doch die Hypotheken auf die Zukunft des Landes sind hoch. Die Verschuldung des Staates wächst in diesem Jahr erneut um mehr als sechs Prozent, bis 2009 könnte Japan mit 200 Prozent seines Bruttosozialprodukts rote Zahlen schreiben. Hinzu kommt das ungelöste Problem der Pensionskassen, in denen sich mit der Verrentung der Babyboom-Generation in den nächsten Jahren riesige Lücken auftun werden. Dafür sieht die Koizumi-Regierung heute nur eine Lösung: den Verkauf der Post. Das sozialpolitische Netzwerk der Post interessiert sie deshalb nicht mehr. Und dank neuer Wählerschaften in den Städten muss die LPD heute einen Machtverlust weniger als früher scheuen, wenn sie die alten Großgrundbesitzstrukturen auf dem Land aufgibt.
Wie aber soll das funktionieren: die Privatisierung eines Finanzriesen mit Geldern in Höhe von zwei Dritteln des Bruttosozialprodukts? In vier Bereiche will Koizumi die Post splitten: in den Postamtbetrieb, den Brief- und Paketdienst, die Sparkasse und das Lebensversicherungsgeschäft. Doch erst einmal hat sich die Regierung zwölf Jahre lang Zeit gegeben: Erst 2017, so steht’s im neuen Gesetz, soll die Privatisierung der japanischen Post abgeschlossen sein. Weil an schnelle Lösungen nicht zu denken ist. Ohnehin sind private Banken und Versicherungen in Japan nicht an einer durch neue Investoren gestärkten Post interessiert. Sie verlangen die Zerschlagung und Auflösung der Post, in der sie immer einen vom Staat unfair bevorteilten Wettbewerber sahen.
Der Trend ist klar. »Der Staat zieht sich zugunsten des privaten Sektors zurück«, analysiert ein hoher Beamter im Tokyoter Finanzministerium das Wesen der Postreform. Er warnt, dass es lange dauern werde. Doch schon jetzt bereiten sich mit Blick auf die Postprivatisierung die großen internationalen Investmentbanken auf lukrative Börsengeschäfte und Fondsgesellschaften auf einträgliche Kooperationen bei der Vermarktung von Finanzprodukten vor.
Genau davor hatte der ehemals einflussreiche Bau- und Verkehrsminister Shizuka Kamei, bis zuletzt einer der vehementesten Gegner der Postprivatisierung, vor allem anderen gewarnt. »Japan wird im Namen der Globalisierung von ausländischen Kräften erobert. Die Postprivatisierung ist die letzte Phase dieses Prozesses. Mit ihr verschenken wir 3,4 Billionen Dollar an Amerika«, schimpfte Kamei. Seine Rufe verhallten ungehört.
Von Georg Blume, DIE ZEIT 13.10.2005 Nr.42
>>> http://zeus.zeit.de/text/2005/42/G-Japan__Post