Konferenzeinladung: Privatisierung in öffentlichen Diensten
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Täglich und auf allen Kanälen heißt es, öffentliche Güter und Sozialleistungen können nicht mehr finanziert werden. Die öffentliche Hand sei verschuldet und die staatliche Bereitstellung von Gütern und Dienstleitungen sei nicht effizient [siehe Dossier „Öffentliche Güter“]. Der Prozess der Privatisierung und die Kommodifizierung noch nicht in Warenform gesetzter Sphären setzten sich nicht nur in allen westlichen Industriestaaten mit dem Siegeszug des Neoliberalismus durch. Die Institutionen des sich herausbildenden globalen Kapitalismus – u.a. IWF/Weltbank, WTO aber auch EU – übernahmen zunehmend die Aufgabe, überall auf der Welt den Prozess der Privatisierung voranzutreiben.
Das Dossier „Privatisierung“ bestimmt das Phänomen begrifflich und geht der Frage nach: „Was passiert, wenn öffentliche Güter privatisiert werden?“ Das Dossier liefert also theoretische Grundlagen und den Einstieg in die Empirie der Prozesse, Verwandlungen und Transformationen im Bereich der Öffentlichen Güter. Die Sammlung und Aufarbeitung des empirischen Stoffs finden zum einen im Weblog des Netzwerks p/ög statt. Des Weiteren findet eine Verarbeitung im Dossier Reichtumsverteilung und in den unter Publikationen versammelten Studien.
Das Dossier ist ein „work in progress“ und wird periodisch aktualisiert und mit weiteren und neuen Verweisen versehen.
Privatisierung bezeichnet den Prozess, in welchem öffentliche Güter einer anderen gesellschaftlichen Form überführt werden, d.h. in welcher der dominante Zweck der Produktion ein anderer wird – gewinnorientierte Verwertung des vorgeschossenen Geldkapitals. Voraussetzung hierfür ist, dass der Marktmechanismus die Produktion ergreift, d.h. dass Produktion der Konkurrenz um Effizienz ausgesetzt wird [siehe Dossier Öffentliche Güter; Altvater „Was passiert, wenn öffentliche Güter privatisiert werden?“, attac zu Privatisierung, Wikipedia zu Privatisierung].
Die Privatisierung vormals staatlich produzierter Güter kann idealtypisch in zwei Modellen erfolgen. Zu unterscheiden ist die formelle Privatisierung (das Unternehmen bleibt im Eigentum der staatlichen Subentitäten, aber das Produkt oder die Dienstleistung selbst wird nach privatwirtschaftlichen Kriterien erbracht) von der materiellen Privatisierung (das Unternehmen wird ganz oder in Teilen an Private verkauft). In beiden Fällen wandelt sich der Produktionszweck. Bei der Produktion eines öffentlichen Gutes steht die Versorgungssicherheit der Nutzer im Mittelpunkt, d.h. der Gebrauchswert des zu produzierendes Gutes – Gewinnzwecke sind nachrangig oder zumindest gleichrangig, solange nicht die Versorgung gefährdet ist. Bei der privatkapitalistischen Produktion einer Ware ist die Maximierung des Profits der Zweck. Irrelevant ist, ob alle Menschen gleichen Zugang haben.
Damit sind die öffentlichen Unternehmen und öffentliche Güter voneinander zu unterscheiden: Bei letzterem ist der Zweck der Produktion und die Bereitstellung der Güter oder Dienstleitungen zentral. Öffentliche Unternehmen können demgegenüber durchaus gewinnorientiert Waren produzieren. Zentral ist hier allein, dass die öffentliche Hand durch Eigentum, finanzielle Beteiligung, Satzung oder anderen Bestimmungen unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss auf die Tätigkeiten des Unternehmens ausüben kann, d.h. ebenso den Zweck der Produktion zu bestimmen.
Welche Form der Privatisierung auch immer gewählt wird, es lassen sich damit zwei zentrale Momente kapitalistischer Produktion aktivieren: Drastische Senkung der Löhne und Produktivkraftsteigerung. Da es sich allerdings meist um Dienstleistungen handelt, ist der Produktivkraftsteigerung schon früh eine Grenze gesetzt, weshalb die Löhne verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Nicht nur erspart sich der Staat ein Heer an BeamtInnen, über den Arbeitsplatzabbau und die verstärkte Konkurrenz sinken auch die Löhne. Neben den Löhnen kommt der Preisgestaltung wieder eine zentrale Rolle zu – so bei der Deutschen Bahn, bei der ein unklares und überteuertes Tarifsystem systematisch Mobilität für die subalternen Klassen verhindert.
Die Privatisierung hat für das Kapital jedoch nicht nur positive Folgen. Neben marktförmiger Preisentwicklung (z.B. bei Energie und Öl), die Kalkulationen erschwert und damit Investitionen hemmen kann, gibt es doch des Öfteren auch Qualitätsverluste zu beklagen (z.B. in der Infrastruktur sowie der Bildung). Auch können „externe“ Effekte durch die kapitalistische Verwertungsdynamik entstehen, die zwar durch die Privatproduktion entstehen, aber deren Kosten sozialisiert werden (z.B. Naturzerstörung) (Krätke 2001).
Diese Momente zerstören mitunter die allgemeinen Produktions- bzw. Verwertungsbedingungen des Kapitals, weshalb das Verhältnis zwischen öffentlichen Gütern und Privatisierung ein nie abgeschlossener Kampf darstellt, der wesentlich auf dem Terrain des Staates um das gesellschaftliche „Allgemeinwohl“ geführt wird.
Für den Prozess der Privatisierung werden diverse Begriffe verwendet. Diese haben jedoch variable Reichweite und heben bei Privatisierung jeweils unterschiedliche Aspekte hervor. Diese widersprechen sich nicht unbedingt, blenden aber bestimmte Aspekte aus und formieren so den Erkenntnisprozess, der auch die Grundlage für die Bewertungen von Gegenstrategien darstellt. Im Folgenden sollen einige zentrale Begriffe, die zur theoretischen Bestimmung der Privatisierung Verwendung finden, vorgestellt werden:
a) Zur-Ware-werden. Der Begriff findet sich bereits in Karl Marx und beschreibt, dass produzierte Güter nicht mehr unmittelbar für den Gebrauch, sondern für den Austausch produziert oder durch Überproduktion dazu werden. Für diesen Prozess hat sich inzwischen der Begriff der Kommodifizierung durchgesetzt [commodity: engl.: Ware].
b) Monetarisierung. Mit dem zur-Ware-werden von produzierten Produkten geht immer auch die Monetarisierung einher: Ware tauscht sich gegen Geld. Wird das Geld der bestimmende Zweck, so kann man von Kommerzialisierung sprechen, die zugleich eine „Verbetriebswirtschaftlichung“ mit sich bringt, da ein effizienter und sparsamer Einsatz und Umgang mit Ressourcen zu einer zentralen Grundlage wird.
c) Inwertsetzung. Eine weitere Stufe erreicht der Prozess der Privatisierung, wenn bestimmte Bereiche der Gesellschaft in Wert gesetzt werden, d.h. die Produktion nicht nur den Zweck oder das Resultat hat, Waren zu produzieren, sondern dass die Produktion in Form kapitalistischer Verwertung von statten geht. Dies hat notwendigerweise das zur-Ware-werden zur Voraussetzung, die jedoch nicht ausreicht. Für die profitable Produktion kommt das Kapitalverhältnis hinzu, d.h. dass Lohnarbeiter für den Zweck der Produktion eingestellt werden, dass sich das vorgeschossene Geldkapital verwertet.
d) Enteignung/Dispossession. Der Begriff der Enteignung wird in der letzten Zeit im Anschluss an die Thesen von David Harvey häufig für den Prozess der Privatisierung verwendet. Er schließt zum einen an das 24. Kapitel in Marx‘ Kapital an, als auch an dessen Rezeption durch Rosa Luxemburg. Marx argumentiert im Kapitel über die so genannte ursprüngliche Akkumulation, dass die Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln und damit Mittellosigkeit und Reichtum auf der einen Seite in einem historischen Prozess durchgesetzt wurde. Dabei geht es ihm weniger darum, dass sich Reichtum und Armut konzentrieren, sondern dass den unmittelbaren Produzenten die Möglichkeiten für die Sicherung der eigenen Existenz geraubt werden und ihnen nurmehr die Möglichkeit bleibt, Ihre Arbeitskraft zur Ware zu machen. Eine historische Voraussetzung für die kapitalistische Ausbeutung. Der zentrale Punkt für Marx ist, dass bei der historischen Durchsetzung der Voraussetzung kapitalistischer Ökonomie nicht der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ waltet, sondern durchaus „außerökonomische, unmittelbare Gewalt“ – das Kapitalverhältnis entsteht „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“. Was für Marx ein notweniger historischer Ausflug in der Argumentation ist, erklärt Rosa Luxemburg zu einem bleibenden und konstitutiven Prinzip des Kapitalismus. Luxemburg geht davon aus, dass der Kapitalismus nur existieren könne, wenn nicht-kapitalistische „Milieus“ durch außerökonomische und unmittelbare Gewalt angeeignet werden würden. Diese Form der Aneignung wird im Ansatz der Enteignungsökonomie zu einem Prinzip des gegenwärtigen Kapitalismus verallgemeinert. Zu den zentralen Formen der Enteignung gehört nach David Harvey die Privatisierung.
e) Communitarisierung. Communitarisierung bezeichnet eine spezifische Form der Privatisierung, bei der die Eigentümerschaft von der öffentlichen Hand in eine gemeinsame Eigentümerschaft, z.B. in Form von Genossenschaften übergeht. Dieses Privateigentum kann durch die Zweckbestimmung der neuen EigentümerInnen, z.B. die Satzung der Genossenschaft, erhalten, obwohl der Träger gewechselt hat.
f) Simulierte Konkurrenz. Im Rahmen der Betriebs- und Verwaltungsorganisation wird inzwischen Konkurrenz simuliert bzw. betriebswirtschaftliche Effizienzkriterien eingeführt (new public management). Während innerhalb der privatwirtschaftlichen Produktion zwar Arbeitsteilung, aber keine Konkurrenz herrschte, da die zerlegten, aber geplanten Arbeitsschritte erst das gewünschte Ergebnis brachten und daher gezielt ineinander greifen mussten, werden nach neuen Managementmethoden Produktionseinheiten, die gleiche Arbeitsschritte vollziehen, gegeneinander ausgespielt oder durch gesetzte Zielvorgaben in eine simulierte Konkurrenz gesetzt. Ähnliches gilt für die öffentliche Verwaltung, die zwar nicht privatisiert wird, aber Mechanismen unterworfen wird, die in der Privatwirtschaft herrschen. Damit verändert sich zwar immer noch nicht der Zweck der Produktion, aber das Mittel zu Bereitstellung von öffentlichen Gütern und Dienstleitungen verändert sich derart radikal, dass der Zweck durchaus untergraben wird.
Eines der zentralen Ziele neoliberaler Politik ist Privatisierung. Das liegt vor allem daran, dass der Markt als die angeblich zentrale und effizienteste Instanz durchgesetzt wurde. In der Neoklassik gilt jeder Eingriff in den Markt als Störfaktor. Verschiedene Diskursstränge kumulierten ab den 1970er Jahren in Debatten über Deregulierung, die in vielen Ländern in „unabhängigen“ Kommissionen zu Telekommunikation, öffentlicher Nah- und Fernverkehr, Energieversorgung etc. führte. Damit gelang es, Stichwortgeber und wissenschaftliche Stützpunkte für neoliberale Politik zu etablieren. Dem Neoliberalismus gelang aber nicht einfach durch die Etablierung der Neoklassik der Siegeszug. Bestimmte Diskurse oder Diskursstränge existieren bereits, bevor sie sich hegemonial durchsetzten. Warum sich ein Diskurs jedoch durchsetzt, ist nicht aus dem Diskurs selbst zu erklären. Vielmehr die Ursache des Bruchs in der umfassenden Krise der ganzen Gesellschaftsformation, die als Fordismus bezeichnet wird.
In der Krise des Fordismus kumulierten mehrere Momente: Mit dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods veränderten sich die Bedingungen der nationalen Geldpolitik. Währungen konnten als Ware gehandelt werden. Die Zentralbanken müssen seitdem stärker auf den Außenwert achten. Zeitgleich drängte das Geldkapital angesichts der hohen Inflationsraten auf Preisstabilität. Die starke Organisations- und Produktionsmacht der ArbeiterInnen und die ausgereizten Produktivitätsreserven im Rahmen des tayloristisch-fordistischen Produktionsmodells führten zu einem Druck auf die Profitrate. Damit war eine für den Kapitalismus relativ lange Phase eines stabilen Kompromissgleichgewichts zu Ende. Neben der Reorganisation der Produktion, dem Druck auf die Löhne und der Investition in Finanztitel war und ist die Privatisierung einer ganzen Palette öffentlicher Güter eine der zentralen Strategien, um dem nach Anlagemöglichkeiten suchenden Kapital neue und lukrative Optionen zu eröffnen.
Daneben haben auch politische Institutionen die Privatisierung vorangetrieben. So drängte die EU im Zuge der Herstellung des Binnenmarktes bereits in den 1980er Jahren auf Privatisierungen. Aber auch das GATS-Abkommen von 1995, das vor allem die Liberalisierung des Dienstleistungsbereich zum Ziel hat, drängt auf eine Privatisierung der öffentlichen Versorgung. Damit werden bestimmte Produktionen unter das Kapitalverhältnis subsumiert und in den Verwertungszusammenhang eingesogen.
Privatisierung ist kein linearer Vorgang von „öffentlichem“ in „privates“ Eigentum, sondern ein umkämpfter und widersprüchlicher Prozess. Der Artikel von Dieter Plehwe Europäische Universaldienstleistungen zwischen Markt und Gemeinwohl [in: Gunnar Folke Schuppert; Friedhelm Neidhardt (Hg.): Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz. WZB-Jahrbuch 2002, Berlin: sigma, S. 389-420] zeigt, wie aus einem staatlich bereitgestellten „öffentlichen Gut“ eine teils privat, teils öffentlich bereitgestellte „minimierte“ Leistung im Sinne einer Grundversorgung wird, kombiniert mit darüber hinaus gehenden frei auf dem Markt gehandelten Dienstleistungen, und diskutiert dies konkret am Beispiel des „Universaldienstes“ der Post.
Der Übergang vom „produzierenden“ zum „Gewährleistungs- und Regulierungsstaat“ ist verbunden mit einem veränderten Verhältnis von Staat und Ökonomie. Der Restrukturierungsprozess ist gekennzeichnet vom Ringen unterschiedlichster Kräfte, v.a. transnationalen Konzernen, institutionellen Akteuren der EU, den verschiedenen nationalen Instanzen, Think Tanks, Gewerkschaften und nicht zuletzt den Postunternehmen selbst. Es zeigt sich, dass neoliberale Liberalisierungsvorstellungen auf politische und ökonomische Hürden treffen. Gerade das Beispiel USA führt vor, dass ein staatlich organisierter Dienst keineswegs weniger effizient arbeitet, als ein marktförmig organisierter.
„Offen“ ist (zusammen mit „Access“) ein Schlüsselbegriff für Alternativen des Umgehens mit dem Problem des geistigen Eigentums geworden. Es geht um offene Räume. Ausgehend von der Debatte um die Offenlegung der Software-Codes (s. Richard Stallmann: Why Software should not have owners oder Doug Palmer: Why Not Use the GPL? Thoughts on Free and Open-Source Software) erweiterte sich die Sicht rasch (z.B. opencode.org). Es geht um Zugangssicherung (z.B. Open Law for Open Access Project oder openNET Coalition), um die Zugänglichkeit von Inhalten (z.B. OpenContent oder Open Archive, das openidea-project – gut zur Einführung: Volker Grassmuck: Offene Quellen und öffentliches Wissen (Moskau 2000)), um Public Domain Informationen (z.B. UNESCO CII oder die nützliche virtuelle Allgemeinbibliothek) Projekte wie Pub Med Central oder einer Public Library of Science, zum letzteren Beiträge von Michael Eisen and Pat Brown: Should the scientific literature be privately owned and controlled? (Nature) und von Mary M. Case: Public access to scientific information. Are 22.700 scientists wrong? (Juni 2001).
Volker Grassmuck gibt in seinem Buch Freie Software zwischen Privat- und Gemeineigentum (Bonn 2002, Bundeszentrale für politische Bildung) eine gute Einführung zu diesem Thema.
Das Projekt open theory versucht Prinzipien freier Softwareentwicklung auf die Diskussion von Theorie zu übertragen. Versuche der Reflektion von Eigentumsfragen ziehen sich hier durch verschiedene Diskussionstränge.
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10-11/2006 | ppg: Konferenzbericht „Wasser ist keine Ware“, Immobilien/Wohnraum |
09/2006 | ppg: Blauer Oktober |
08/2006 | ppg: Diverse |
07/2006 | ppg: Bildung, Forschung und Bewegung |
05-06/2006 | ppg-i |
02/2006 | ppg: Schwerpunkt Privatisierungsdebatte |
01/2006 | ppg: ppg-Jahrestagung 2005 & Diverses |
Aktuelle Publikationen zu den Themen Privatisierung und Öffentliche Güter listet das Publikationenverzeichnis der RLS.
Hier findet sich die Liste der aus der Arbeit des Netzwerks entstandenen Publikationen.
(Stand: Ende 2007)
Aktuelle Publikationen zu den Themen Privatisierung und Öffentliche Güter listet das Publikationenverzeichnis der RLS.
[lang_de]Burkina Faso hat zwei öffentliche Hochschulen: die Universität in der Hauptstadt Ouagadougou (UO) und eine polytechnische Hochschule in Bobo-Dioulasso; von den rund 20.000 Studierenden der UO sind nur fünf Prozent Frauen. In jüngster Zeit kam es zu einem Boom privater Hochschulen, die gerade für wirtschaftswissenschaftlich und international ausgerichtete Studiengänge eine wichtige Rolle spielen, mehr in Sul Serio: www.reflect-online.org/index.php und www.reflect-online.org/index.php
Im Sonderheft „Sul Serio: Soziale Bewegungen in Afrika“ www.reflect-online.org/index.php
der Assoziation reflect! www.reflect-online.org/index.php[/lang_de]
Horst Bethge stellt zwei Texte, einen Artikel und ein Vortragsmanuskript, zur Verfuegung: Es geht um…
In Zeiten von Bildungsprivatisierung geraet manche sich emanzipativ-progressiv verstehende Person in…
In einem Interview erlaeutert Christian Lammers, warum die Privatisierung von Bildungseinrichtungen…
Marburg.1.Mai2007
Hans-Ulrich Deppe
Maikundgebung des DGB am 1. Mai 2007 auf dem Marktplatz von Marburg an der Lahn
Liebe Kollegin, lieber Kollege!
Lassen wir die letzten Jahre Revue passieren: Es gibt ein Phänomen, das in unterschiedlichen Verpackungen immer wieder auftritt und gewerkschaftlichen Protest hervorruft. Das ist die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen hat im letzten Jahrzehnt dramatisch zugenommen. Um nur einige aus der Vielzahl herauszugreifen, die einem spontan einfallen: die Post, die geplante Privatisierung der Bahn, kommunale Einrichtungen wie Wasser-, Elektrizitätswerke und soziale Treffpunkte, Krankenhäuser, die Rente, Universitäten oder die Studiengebühren. Unter Privatisierung versteht man die Enteignung öffentlichen Eigentums! Öffentliches Eigentum das meint Einrichtungen, die mit Steuermitteln – also kollektiven Geldern – aufgebaut und eingerichtet wurden, weil sie gesellschaftlich notwendig sind. Sie werden heute abgestoßen, weil sie unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten die Landes- oder kommunalen Haushalt belasten. Natürlich waren die Landes- und Kommunalhaushalte Jahre lang klamm. Das hat sich erst in den letzen Monaten etwas gebessert. Und wo nichts ist, da kann man auch nichts holen. Das ist zwar eine eingehende Logik – nur: Leider ist sie falsch! Denn wir dürfen bei dieser Argumentation nicht stehen bleiben und sie resignativ hinnehmen. Wir müssen vielmehr weiterfragen: Warum sind oder waren die öffentlichen Haushalte solange unterfinanziert? Und das wiederum hängt mit einer Steuerpolitik zusammen, die die Kassen der öffentlichen Haushalte bewusst leer gefegt hat. Ein Steuerpolitik, die die Unternehmen begünstigt und die Bürger belastet. In unserer Republik gibt es Großunternehmen, die heute so gut wie keine Steuern bezahlen, während die Bürger gerade eine drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer hinnehmen mussten. Öffentliche Einrichtungen, die einst als soziale Errungenschaften galten und allen in der Gesellschaft zur Verfügung standen, werden nicht im öffentlichen Interesse saniert. Man lässt sie bewusst verkommen oder putzt sie raus, um sie unter Wettbewerbsbedingungen vermarkten und schließlich privatisieren zu können. In der Regel werden sie zu Spottpreisen verschleudert. Die verbleibenden sozialen Kosten, die in jeder Gesellschaft auftreten, werden auf die einzelnen Bürger abgewälzt. Eine solche neoliberale Politik führt zu einer Polarisierung in der Gesellschaft. Die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer. Und damit steigt das Konfliktpotenzial in der Gesellschaft. Das beginnt mit dem Anstieg der Kriminalität auf der Straße und in der Wirtschaft (siehe Siemens!) und geht bis zu kriegerischen Auseinandersetzungen auf globaler Ebene.
Nun – schauen wir uns hier in Marburg unter dem Gesichtspunkt der Privatisierung einmal etwas um. Da fällt einem natürlich sofort die Universität ein. Gegenwärtig werden Lehre und Forschung an den Hochschulen mittels Drittmittelforschung, Stiftungsuniversitäten und privaten Lehrstühlen, Bachelor-Studiengängen und der Einführung von Studiengebühren an den Interessen der Wirtschaft und der herrschenden Politik neu ausgerichtet. Die Kommerzialisierung von Bildung und Wissenschaft wird massiv vorangetrieben. Spielräume wissenschaftlicher Autonomie werden dramatisch verengt. Während der direkte Einfluss der Wirtschaft auf die Hochschulen mittels neuer Steuerungsinstrumente festgeklopft wird, bekommen Kooperationen mit der Zivilgesellschaft, sozialen Bewegungen und Organisationen mehr denn je Seltenheitswert. Aufklärendes Denken und kritische Wissenschaften werden an den Rand gedrängt– und in Marburg darf man noch hinzufügen: Marxistische Theorie wird langsam aber sicher ausgeschlossen!
Die Allein-Regierung der CDU in Hessen hat diese Entwicklung der Privatisierung der Hochschulen mit Macht vorangetrieben. Dabei denke ich an die in Kürze geplante Umwandlung der gesamten Frankfurter Universität in eine Stiftungsuniversität. Weiter geht es um die Einführung der Studiengebühren, die vor allem die sozial Schwachen trifft und auf den heftigen Widerstand der Studierenden gestoßen ist. Und es geht um die Privatisierung der Universitätsklinika von Gießen und Marburg, ihren Verkauf an eine private Aktiengesellschaft. Die Rhön-Klinikum AG hat am 1. Februar 2006 die volle unternehmerische Verantwortung für das Universitätsklinikum Gießen und Marburg übernommen. Hessen hat als erstes Bundesland ein Universitätsklinikum privatisiert. Die von der CDU geführte hessische Landesregierung hat damit Pilotfunktion für die gesamte Republik übernommen.
Es ist aber nicht nur das Universitätsklinikum Gießen und Marburg – auch in anderen Teilen Hessen haben wir Krankenhausprivatisierungen. Ich denke dabei an das Krankenhaus in Langen, an die Schwalm-Eder-Kliniken oder die Privatisierungsgerüchte um das Höchster Krankenhaus in Frankfurt und das Krankhaus Witzenhausen in Nordhessen.
Schauen wir uns einmal an, was die Privatisierung eines Krankenhauses nach innen bedeutet: Als erstes verändert sich das Ziel der Einrichtung. Eine öffentliche Einrichtung ist am Bedarf orientiert und darüber wird demokratisch beschlossen. Deshalb heißt es auch im Hessischen Krankenhausgesetz: „Die Gewährleistung der bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung durch leistungsfähige Krankenhäuser ist eine öffentliche Aufgaben.“(§3) Private Unternehmen haben ein anderes Ziel. Für sie hat die Rentabilität des eingesetzten Kapitals oberste Priorität. Und wie dieses Ziel erreicht werden soll, entscheiden vor allem die privaten Eigentümer. Die Aktionäre – gleich welcher Aktiengesellschaft – wollen eine satte Dividende sehen. Sie interessiert die Höhe der Dividende mehr als die Frage, wie diese zustande kommt.
Als Zweites werden Arbeitsplätze gestrichen. Immerhin betragen die Personalkosten im Krankenhaus etwa zwei Drittel der Gesamtausgaben. So heißt es hierzu in der Jahresbilanz des Deutschen Ärzteblatts zur Privatisierung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg: „Leitende Chirurgen (müssen sich) in ´Performance-Gesprächen´ die Frage gefallen lassen, was sie eigentlich den ganzen Tag tun. Ihre Abteilungen stehen plötzlich in Konkurrenz mit (angeblich) vergleichbaren Abteilungen anderer Rhön-Kliniken … (Und) stimmt die ´Performance´ nicht, werden ärztliche Stellen gestrichen.“ Darüber hinaus beklagt das Deutsche Ärzteblatt bei seinen Recherchen eine bisher nicht bekannte Zurückhaltung der Beschäftigten gegenüber Journalisten – und meint: „Was dahinter steckt ist klar. Als börsennotiertes Unternehmen muss die Rhön-Klinikum AG darauf bedacht sein, dass keine Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, die sich negativ auf den Aktienkurs auswirken könnten.“ (DÄ H.9, 2007, S. 453)
Das um sich greifende Rentabilitätsdenken in der Medizin führt zu einer immer stärkeren Kommerzialisierung in der Krankenversorgung. Das äußert sich darin, dass die Effizienz, die wirtschaftliche Kosten-Nutzen Relation, immer mehr in den Vordergrund geschoben wird und auf Teufel komm raus schwarze Zahlen geschrieben werden müssen. Aber die Häufigkeit und Schwere von Krankheiten richten sich leider nicht nach der jeweiligen Finanzsituation. Vom Arzt wird immer nachhaltiger eine messbare Leistung zu einem festgesetzten Preis verlangt. Diese Leistung nimmt zunehmend Merkmale einer Handelsware an, die unter Bedingungen der Konkurrenz erbracht wird. Entsprechend verwandelt sich der Patient immer mehr in einen Kunden, an dem verdient werden soll. Und der beste Kunde ist in der Regel der, an dem am meisten verdient wird. Patienten werden unter solchen Bedingungen dann vielleicht wie „König Kunde“ bedient, aber nicht mehr wie kranke Menschen behandelt.
Die zunehmende Kommerzialisierung ist freilich nicht nur ein Problem für die praktische Medizin. Auch die Forschung am Menschen ist davon betroffen. Ich denke insbesondere an die Forschung, die zunehmend über private Drittmittel finanziert wird und von den Interessen der Geldgeber keineswegs unabhängig ist. Auch hier gilt nach wie vor das Sprichwort: Wer zahlt, schafft an!
Aus dieser Problemlage ergibt sich, dass es in einer jeden Gesellschaft am Gemeinwohl orientierte Schutzzonen geben muss, die nicht der blinden Macht des Marktes und der deregulierenden Kraft der Konkurrenz überlassen werden dürfen. Es ist die oberste Aufgabe des Staates zum Schutz und zur Sicherheit seiner Bürger hier einzugreifen. Erst auf dieser Grundlage lassen sich nämlich Selbstbestimmung und eigenverantwortliches Handeln entfalten. Hier liegen die Freiheit stiftenden Effekte sozialer Sicherheit.
Kommen wir nun zur so genannten Gesundheitsreform. Nach langem Hin und Her hat die Große Koalition aus CDU und SPD ein Gesetz verabschiedet, das am 1. April dieses Jahres in Kraft getreten ist. Trotz zahlreicher Detail-Veränderungen sind die grundlegenden Probleme geblieben. Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz trägt nicht zur Lösung der Finanzprobleme in der gesetzlichen Krankenversicherung bei. Es behebt nicht die bestehenden Gerechtigkeitsdefizite in der Finanzierung der Krankenbehandlung, sondern verschärft diese noch. Das Gesetz schont einseitig die Interessen einflussreicher Lobbygruppen. Ich denke hier besonders an die Pharmaindustrie und die privaten Krankenversicherungen. Und die finanziellen Lasten dieser Politik haben in erster Linie die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen zu tragen. Die Verlierer dieser Reform sind die Kassen und die Versicherten. Insgesamt fällt auf, dass auf die eigentlichen Finanzprobleme der GKV nicht eingegangen wird. Kein Wort wird darüber verloren, dass die neoliberale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, die stagnierenden Erwerbseinkommen und die anhaltende Massenarbeitslosigkeit den Umfang sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung eingedampft haben. Wie wichtig dieser Punkt ist, können wir daran sehen, dass öffentliche Haushalte und gesetzliche Krankenversicherungen schnell wieder liquide werden, wenn die Arbeitslosigkeit – wie in den letzten Monaten – nur geringfügig zurückgeht und sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen. Eine vernünftige Arbeitsmarktpolitik ist also die beste Finanzierungsgrundlage für die GKV. Solange hier keine grundsätzliche Umorientierung stattfindet und die neoliberalen Bedingungen auch weiterhin als unveränderlich akzeptiert werden, ist die nächste Finanzierungskrise der Krankenversorgung vorprogrammiert.
Immer wieder können wir hören, dass die Entwicklung schon weit fortgeschritten sei und dass es dagegen kein Heilmittel gebe. Es handele sich sozusagen um einen Sachzwang, dem man sich beugen müsse. Ohne den zweifellos entstandenen Druck bagatellisieren zu wollen, meine ich aber, dass dieser von Menschen erzeugte Druck auch von Menschen verändert werden kann. Schließlich sind ökonomische Modelle menschliche Konstrukte und keine Naturgesetze.
Kerngedanke eines anderen, gegen die zerstörerische Kommerzialisierung gerichteten Modells ist die Solidarität. Denn Solidarität geht nicht von den Individuen und ihren marktvermittelten Beziehungen aus. Sie beruht vielmehr auf Gemeinsamkeit und Fairness. Solidarität setzt ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit und innerer Verbundenheit voraus, das in einer Kultur, einer ethnischen Gruppe oder in einer sozialen Lage mit spezifischen Lebenserfahrungen begründet ist. Wie wir aus der Geschichte wissen, kann Solidarität große Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut oder Rechtlosigkeit bewältigen. Am wirkungsvollsten kommt Solidarität in organisierter Form mit breiter Beteiligung von unten zur Geltung. Und im Gesundheitswesen sind in der Tat gemeinsame Anstrengungen zur Lösung eines gemeinsamen Problems gefragt.
In vielen Ländern zählt gerade die Krankenversorgung zu dem Bereich, in dem Solidarität ein traditionelles Strukturprinzip ist. Sie kommt hier in unterschiedlichen Formen wie Hilfsbereitschaft, Caritas, Diakonie oder Gegenseitigkeit zum Ausdruck. Krankheit ist nämlich ein allgemeines Lebensrisiko, von dem alle betroffen werden können. Und in der Stunde der Not sind Kranke auf Solidarität angewiesen. Auch im deutschen Gesundheitssystem hat Solidarität einen hohen Stellenwert. Es besagt, dass bis zu einer festgelegten Einkommensgrenze Sozialversicherte mit unterschiedlichen Beiträgen einen Anspruch auf gleiche Leistungen im Krankheitsfall haben und dass bestimmte Gesellschaftsgruppen wie Kinder oder nicht berufstätige Ehepartner ohne eigene Beiträge mitversichert sind. Auch die Mitfinanzierung der Krankenversicherung von Rentnern und Arbeitslosen durch versicherungspflichtige Beschäftigte ist in einem erweiterten Sinn der Solidarität zuzurechnen.
Diese Solidarität im Gesundheitswesen ließe sich durch eine Bürgerversicherung ausweiten. Stattdessen wird sie durch den Einsatz neoliberaler Instrumente systematisch zerstört. Bedauernswert ist, dass inzwischen selbst politische Organisationen, die einst ihre Identität aus der Kraft der Solidarität schöpften, sich heute diesem Prozess nicht nur nicht widersetzen, sondern ihn sogar noch unterstützen.
Solidarische Alternativen sind möglich! Im Gesundheitswesen wird dabei an folgende Grundsätze gedacht:
– Die Krankenversorgung ist alleine am medizinischen Bedarf auszurichten.
– Die gesamte Bevölkerung hat freien Zugang zur Krankenversorgung.
– Die medizinischen Leistungen sind für alle gleich, unabhängig von den individuellen finanziellen Möglichkeiten.
– Die Finanzierung erfolgt solidarisch in Form von Steuern oder Beiträgen.
– Gesundheitsförderung hat einen erheblichen Nachholbedarf gegenüber der Krankenversorgung.
Diese Eckpunkte richten sich gegen die Unterwerfung der Krankenversorgung unter die kommerziellen Gesetze des globalen Marktes. Sie stehen für eine Absicherung des sozialen Risikos Krankheit durch die solidarische Bereitstellung öffentlicher Güter. Sie demonstrieren, dass das Prinzip der Solidarität als Alternative zur Privatisierung und Kommerzialisierung der Krankenversorgung möglich ist. Deshalb lohnt es sich auch, für ihren weiteren Ausbau zu kämpfen. Und das gilt nicht nur für die Krankenversorgung, sondern für eine humane Gesellschaft insgesamt, in der soziale Gerechtigkeit und gute Arbeit respektiert werden (Motto).