Wessen Stadt?

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Blick von Süden auf den Alten Hafen. In der oberen Bildhälfte die modernistischen Neubauten an der Stelle des gesprengten Viertels.

Marseille ist bekannt. Es gibt Bücher voll mitreißender Kriminalgeschichten (Jean Claude Izzo), Fluchterzählungen (Fred Wander, Anne Seghers), Berichte von Reiseaufenthalten (Walter Benjamin, hier im Volltext). Es ergibt sich eine Vorstellung von der Stadt mit Hafen, Bars, Mistral. Der Bahnhof St. Charles heisst reisende Lesende willkommen wie ein alter Bekannter: Hinunter gehts die Treppe in die hafenstädtische Geschäftigkeit. Das angelesene Wissen aus und über diese Stadt lässt Erwartungen und prickelne Neugierde aufsteigen. Und mit eigenen Erfahrungen in der Stadt stellen sich Freude und auch Enttäuschungen ein, z.B.: Französische Bauhausarchitektur und nationalsozialistischer Vernichtungswahnsinn widersprechen sich nicht.

Marseille schrieb und schreibt auch Geschichte der Stadterneuerung: etwa mit der Sprengung des alten Hafenviertels, eines dicht bewohnten Quartiers im Stadtzentrum, im Januar 1943. Bekannt ist die Maßnahme möglicherweise jenen, die sich mit der Rolle der Nationalsozialisten zur Zeit der Besetzung Marseilles von 1942 bis 1944 beschäftigt haben.

SS Reichsführer Heinrich Himmler befand das alte Hafenviertel für vernichtungswürdig und ordnete die Sprengung der Häuser samt ihrer Bewohner_innen an (vgl. Günter Liehr „Marseille“, 2013). SS- und Polizeiführer Carl Oberg, als „Schlächter von Paris“ bekannt und Empfänger des Befehls, setzte diesen um. 25.000 Bewohner_innen wurden aus ihren Häusern vertrieben, die Häuser selbst Straßenzug für Straßenzug gesprengt. Mit der sogenannten Evakuierung verband sich eine zweite Aktion:
Die Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Hafengebiet. Die Bewohner_innen kamen in verschiedene französische Konzentrationslager und wurden von dort weiter in die Vernichtungslager im Osten Europas gebracht. Widerstand gegen die Räumung kam nur von den Prostituierten des Viertels, die dort bis zur Vertreibung lebten und arbeiteten.

Interessant ist nun, dass bereits Bauhaus-Architekten der Ansicht waren, die Stadt brauche Licht und Platz. Auch sie planten schon den Abriss und Neubau des Viertels. Die armen Hafenviertel waren eng, dunkel, feucht. Liehr schreibt:

Schon in der Ära der Dritten Republik traten Urbanisten mit dem Vorhaben einer Radikalsanierung auf den Plan. […] Im April 1931 beauftragte der Marseiller Stadtrat den Pariser Architekten und Urbanisten Jacques Gréber mit der Entwicklung eines Planes zur ‚Herrichtung, Verschönung und Ausdehnung‘. […] Sein Vorbild war Le Corbusier […]“ (Liehr:186 f).

Gréber sah einen Abriss und Neubau des Viertels vor, eine Umsiedlung der Bevölkerung in die Vorstädte. Für das Auge schlug sein Pariser Kollege Gaston Castel vor, die Hafenzeile stehen zu lassen. Die Nazis haben dieses Konzept dann genau so umgesetzt.

Le Corbusier hatte bereits zur Pétain-Regierung des Vichy Regimes gute Kontakte geknüpft. Allerdings kam er als Architekt erst nach dem 2. Weltkrieg wirklich zum Zuge. Er hatte eine Stelle als Stadtplaner u.a. für die zerstörten Gebiete (vgl. Liehr).

Es war nicht vorgesehen, hätte vielleicht nicht sein sollen: Dennoch trafen sich die architektonischen Interessen der Modernisten in Frankreich mit den rassistischen antisemitischen Weltherrschafts- und Vernichtungsinteressen der deutschen Nazis und französischen Faschisten.

Marseille ist 2013 europäische Kulturhauptstadt (neben Košice, Slowakei). Nicht nur deshalb und aufgrund des der Kulturhauptstadtplanung zugrunde liegenden städtischen Modernisierungskonzepts „Euromediterranée“ wird die Stadt völlig umgebaut und und ihr ein neuer Modernisierungsschub auferlegt. Die Verdrängung der Bevölkerungsgruppen, die sich die damit einhergehenden Preissteigerungen (Lebenshaltung, Mieten) nicht leisten können oder wollen, schreitet in großen Schritten voran.

Die abgerissenen Viertel wurden ihrer Bevölkerung beraubt. Als sozial zusammengewachsene Bevölkerungsgruppe ist sie nie wieder in das Stadtzentrum zurück gegekehrt. Stattdessen gibt es Stadtrundfahrtbähnchen für Tourist_innen durch eine Puppenstube in Pastelltönen mit Boutiquen, Souveniers, Cafés und massiver Kameraüberwachung. Für Arbeiter_innen, Prostituierte, Seefahrer, Handwerkerinnen, Migrantinnen und Kriegsflüchtlinge war und ist das Wohnen und Leben am Meer und am städtischen Hafen nicht vorgesehen. Arme und reiche Klasse sollen separiert unter ihresgleichen bleiben. Dieses „teile und herrsche“ wurde in Marseille über die Jahrzehnte mit den verschiedensten Methoden praktiziert.

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