Braindrain und Antiziganismus in Europa

bdEin lesenswerter Artikel in der heutigen Berliner Zeitung darüber, wie das Problem der Armut nicht nur in Rumänien und Bulgarien umgedeutet wird zu einem Roma-Problem. Vor allem der Hinweis auf den Braindrain (z.B. gut ausgebildeter MedizinerInnen) aus den armen in die reichen europäischen Länder verdient Hervorhebung:

Beide [Deutschland und Großbritannien; ME] haben für Rumänen und Bulgaren ihren Arbeitsmarkt erst am 1. Januar ganz geöffnet. Vor Jahren aber schon sind für gefragte Berufsgruppen – vor allem Ärzte und Krankenpflegepersonal – alle Barrieren gefallen. Personalagenturen werben die Medizin-Absolventen an, organisieren ihnen den Papierkram und den Deutschkurs, suchen eine Stelle und eine Wohnung. Ganze Jahrgänge gehen beinahe geschlossen nach Westen. Die Gebliebenen müssen für 200 Euro im Monat doppelt schuften. Rumänien hat die niedrigste Ärztedichte Europas und bildet für das reiche Deutschland die Mediziner aus. Das Motto ist: Die Ärzte sollen kommen, aber deren mögliche Patienten sollen bleiben, wo sie sind.

So wird aus dem Recht auf Freizügigkeit das Recht der reicheren EU-Länder, sich aus dem Potenzial der Zuwanderer die Rosinen herauszupicken – der angeblichen Einwanderung in die Sozialsysteme steht ein tatsächlicher Export des Ärzte- und Pflegermangels gegenüber. Quelle

Dieser real existierende massenhafte „Diebstahl“ gut ausgebildeter Fachkräfte durch die BevölkerungspolitikerInnen und HumanressourcenmanagerInnen der reichen europäischen Länder steht im Kontrast zu einem der antiziganistischen Standardvorurteile (vgl. hierzu z.B. einen einschlägigen Artikel in der aktuellen MALMOE), das den Roma Kindesentführungen andichtet. In diesem Kontrast strahlt die neo-koloniale Scheinheiligkeit auf, die die innereuropäischen Verhältnisse zunehmend prägt.

Mobil gegen Armut

unrast-logo_sr_13x14.5_CS3Es gibt verschiedene Möglichkeiten für eine Gesellschaft, mit der Armut ihrer Mitmenschen und den eigenen Verarmungsängsten umzugehen. Eine in der BRD immer wieder sehr verbreitete Umgangsform ist die rassistische Stigmatisierung derjenigen, die am schlechtesten dastehen oder die als „andere“ stigmatisiert werden können. Eine sehr „gewöhnliche“ und daher selten problematisierte Form, der Antiziganismus, ist massiv ausgeprägt.

Spiegel online schreibt:

Eine Studie belegt, dass jede_r vierte Deutsche will, dass Roma aus deutschen Innenstädten verbannt werden, jede_r zweite glaubt, dass die Roma eine Neigung zur Kriminalität haben. Ein unbeliebtes Thema, diese Roma.

Das empfehlenswerte 2009 erschienene Buch „Antizigane Zustände“:

Antiziganismus ist ein weit verbreitetes und virulentes Phänomen, das in den westlichen Gesellschaften tief verankert ist. In nahezu allen Staaten Europas werden Menschen als »Zigeuner« diskriminiert und teilweise verfolgt.

Das Buch beschreibt den europaweiten Antiziganismus, die allgegenwärtige Stigmatisierung durch Politik, Wissenschaft und Medien, bewegt sich durch Geschichte und Gegenwart und geht auf die Analogie zum Antisemitismus ein.