Japans Postreform – ein Lehrstueck

Der durchschlagende Wahlsieg der Liberaldemokraten (LDP) am letzten Sonntag hat die Kräfteverhältnisse im japanischen Parlament derart grundlegend geändert, dass Hoffnungen auf eine Beschleunigung des Reformkurses berechtigt scheinen. Die beiden Regierungsparteien, die LDP und die buddhistisch angehauchte Neue Komeito, verfügen dank ihrer Zweidrittelmehrheit über die Möglichkeit, sich gegebenenfalls über eine Reformblockade konservativer Kräfte im Oberhaus hinwegzusetzen. Die Taktik von Ministerpräsident Junichiro Koizumi, 37 abtrünnige LDP-Abgeordnete, die im August gegen seine Postreformvorlage gestimmt hatten, kurzerhand aus der Partei hinauszuspedieren, hat sich ausbezahlt. Koizumi hat seine härtesten Widersacher, die sich schon immer innerhalb der LDP und nicht auf den Oppositionsbänken fanden, für einige Zeit zum Schweigen gebracht. Das Volk vertraut Koizumi mehr noch als der LDP, und es hat ihm nun den Rücken gestärkt.
Angelpunkt und Grundstein für den grössten Wahlerfolg der LDP in ihrer 50-jährigen Geschichte ist die von Koizumi durch alle Böden hindurch verfochtene Postprivatisierung. Schon früh trat der Mann mit der wilden Löwenmähne für dieses Projekt ein; 1992 forderte er als Postminister zum Entsetzen der LDP-Oberen die baldige Entlassung der Postsparkasse in die Privatwirtschaft. In seiner Regierungserklärung von 2001 schlug Koizumi dann härtere Töne an und brandmarkte die Staatspost als eine der Hauptursachen für die Wirtschaftsmisere in Nippon. Nun verhält es sich tatsächlich so, dass die Post am japanischen Kapitalmarkt aufgrund ihrer Grösse, vor allem aber wegen ihrer Privilegien wie der Elefant im Porzellanladen herumtollt. Japans Post ist mit ihren 280 000 Angestellten und 25 000 Filialen nicht nur eine viel zu grosse Monopolistin für die Zustellung von Briefen, sondern sie verwaltet über ihr Sparkassen- und Lebensversicherungsgeschäft die immense Summe von umgerechnet 4400 Mrd. Fr. Damit übertrifft die Post die grösste Bank der Welt, Citicorp, um Längen – womit zu Rentabilität und Effizienz aber nichts gesagt ist.
Es ist kein Zufall, dass Koizumi mit der Vorbereitung der Postprivatisierung Heizo Takenaka betraut hat, denn Japans Staatsminister für Wirtschaftspolitik brachte zuvor die Sanierung des Bankensektors massgeblich voran. Bank- und Postreform sind eng miteinander verquickt. Die Gesundung des Finanzsektors wird nicht nachhaltig sein, wenn die neu formierten Banken nicht mit gleich langen Spiessen wie die Postsparkasse ins Feld ziehen können. Die mit einer Staatsgarantie ausgestattete Postsparkasse zahlt keine Steuern; auch die Pflicht zur Unterlegung ihres Geschäfts mit Eigenkapital und Mindestreserven fehlt. Vier von fünf Japanern unterhalten bei der Post ein Bankkonto, was nicht weiter verwundert, weil die Zinsen sowieso vernachlässigbar gering sind, die Kommerzbanken aber – sinnvollerweise – keinen unbeschränkten Einlegerschutz mehr gewähren. Die Marktverzerrung ist evident wie auch die schleichende Verstaatlichung des Bankgeschäfts überhaupt. Klüngelwirtschaft, Korruption und Geldverschwendung feiern in diesem Umfeld Urständ.
Ausser der an und für sich schon untolerierbaren Unterminierung des privaten Bankensektors hat das Post-Füllhorn noch andere negative Konsequenzen. Die Postsparkasse gehört zusammen mit der staatlichen Rentenkasse zu den schlagkräftigsten Machtinstrumenten der Mandarine in der Ministerialbürokratie. Innerhalb des Dreiecks Wirtschaft – Politik – Bürokratie verfügt die letztgenannte Institution über viel Macht, was sich just bei der Staatspost auf fatale Weise bemerkbar macht. Die Mechanik zur Umleitung der Finanzströme nach dem Gutdünken der Spitzenbeamten des Finanzministeriums ist im Prinzip seit fünfzig Jahren intakt. Die mit der Postsparkasse geäufneten Mittel werden nämlich im Rahmen des Fiscal Investment and Loan Program (FILP) – es wird wegen seines Gewichts im Volksmund das «zweite Budget» genannt – an zahlreiche staatsnahe Agenturen ausgeliehen; mit dem Rest werden Staatsobligationen gekauft. Dieser riesige Schattenhaushalt entzieht sich weitgehend der parlamentarischen Kontrolle und nährt den Verwaltungsapparat. Marktkriterien spielen bei der Verteilung der Gelder keine Rolle, persönliche Beziehungen und die Fortführung des bisherigen Ausgabengebarens dagegen schon. So etwas verträgt sich schlecht mit Marktwirtschaft.
Die OECD hat vor Jahren anhand des Fiaskos mit den staatlichen Eisenbahnen interessantes Anschauungsmaterial zur Effizienz von FILP-Programmen geliefert. Die während zweier Dezennien Verluste einfahrende Japan National Railways (JNR) wurde 1987 in sieben Unternehmen aufgespalten. Der Staat übernahm von ihr via JNR Settlement Corp. Schulden von umgerechnet rund 300 Mrd. Fr. sowie Aktiven, mit denen man diese Verbindlichkeiten decken wollte. Die Netto-Verbindlichkeiten stiegen aber in der Folge trotz dem Verkauf von Land unablässig, bis 1998/99 die Quittung erfolgte. Mit dem Transfer eines Defizitbetrags von wiederum 300 Mrd. Fr. in die ordentliche Rechnung erfüllte die Regierung die gegenüber den Staatsbahnen implizit abgegebene Garantieleistung. Die Aktiven reichten also gerade zur Bezahlung von Renten und Zinsen. Selten ist dem in- und ausländischen Publikum so klar vor Augen geführt worden, von welch zweifelhafter Natur die Werthaltigkeit von Vermögenswerten staatlicher Agenturen Japans sein kann.
Wenn sich Koizumi jetzt anschickt, den Koloss Post zu zerschlagen, steht viel auf dem Spiel. Der Plan zur Privatisierung der Post ist mutig, zählen wird aber nur dessen Umsetzung. Früh schon ist auch der Spitzenverband der Wirtschaft, Keidanren, auf den Koizumi-Kurs eingeschwenkt, und noch vor Bekanntgabe des neuen Kabinetts soll nun das Postreformgesetz verabschiedet werden. Es ist erfrischend, wenn sogleich aufs Tempo gedrückt wird, obwohl der bisherige Zeitplan zur vollen Privatisierung der Post alles andere als ambitiös wirkt. Bis 2007 werden die vier Geschäftsbereiche Briefzustellung, Postbank, Lebensversicherung und Verwaltung der Schalterdienste unter ein gemeinsames Holdingdach gelotst. Erst 2017 würde dann nach stufenweisem Vorgehen die Privatisierung mit der Placierung der letzten Postbankaktien abgeschlossen.
Obwohl der Zeitraum von einem Dezennium zwischen Start- und Zielpunkt der Postreform skeptisch stimmt und Koizumi angeblich schon 2006 zurücktreten will, gibt es mehrere ermutigende Zeichen. Noch nie, auch nicht unter Tanaka in den siebziger und unter Nakasone in den achtziger Jahren, hatte eine Regierung so freie Hand wie jetzt die Administration Koizumi. Partikulärinteressen werden einen schweren Stand haben. Das wirtschaftliche Umfeld für beherzte Reformen ist ebenfalls günstig. Die Deflation scheint bald besiegt zu sein, die Bilanzen der Banken sind grossenteils in Ordnung, und das Wachstum ist mit zuletzt geschätzt mehr als 3% in Anbetracht der sinkenden Erwerbsbevölkerung sehr ansprechend. Zweifellos muss Koizumi noch andere Reformen anpacken. Das im Umlageverfahren organisierte Rentensystem lässt sich nicht halten. Noch vordringlicher ist eine Gesundheitsreform; die rasche Überalterung zwingt zu einem Umbau. Gemessen werden wird die Regierung Koizumi aber vor allem an der Postprivatisierung. Gelingt sie, ist Japan ein gutes Stück weiter. Nach Marktkriterien vergebene Kredite einer privatisierten Postsparkasse würden Japan nachhaltig revitalisieren.

Neue Zürcher Zeitung, 17. September 2005