Philipp Stierand vertritt in seinem Buch anschaulich und kenntnisreich die These, dass in der Stadt über die Zukunft der Landwirtschaft entschieden wird. Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion sind für ihn keine „ländlichen“ Themen, sondern zutiefst urbane. Die Agrarwende muss von der Stadt ausgehen, dort wird über die Zukunft der Ernährung entschieden werden. Diese Fragestellung ist ihm, das ist auf jeder Seite seines flüssig zu lesenden Textes zu merken, ein echtes persönliches Anliegen.
Ursprünglich studierte Stierand Raumplanung und wunderte sich, dass das Thema Lebensmittel in seiner Ausbildung nicht vorkam. Dies war für ein nur ein Aspekt davon, dass sich die Stadt keine Gedanken über ihre Lebensmittel macht. Dabei verbraucht allein die Stadt Berlin 34.000 Tonnen davon, pro Woche. 20 Prozent davon werden allerdings weggeworfen, das sind pro Einwohner_in in Deutschland im Durchschnitt 80 Kilo im Jahr.
Stierand stellt dem Wahnsinn der industrialisierten Lebensmittelproduktion eine kommunale Ernährungspolitik entgegen, die die Erzeugung, die Verarbeitung, den Handel und Konsum ebenso in den Blick nimmt, wie die Entsorgung. Es gelte auf vielen Ebenen und, angestoßen von vielen Akteur_innen, die sog. „New Urban Food Needs“ anzustreben, die grob gesagt auf Vertrauen, Gesundheit, Nachhaltigkeit und Fairness basieren – und viele Projekte tun dies auch schon.
Er stellt drei Strategien vor: urbane und stadtnahe Landwirtschaft, Regionalisierung der Lebensmittelproduktion und drittens die Stärkung der Ernährungskompetenz. Grade das letzte sei immens schwer, da Verhaltensänderungen tiefgreifende kulturelle Muster überwinden müssten und der Verbraucher zusehends überfordert sei. Dabei hängt er nicht der Illusion an, individueller Konsum könne etwas grundlegend ändern. Vieles sei nur auf politische Ebene zu regeln und einzuhegen. Er bringt auch neue Argumente vor: In der Landwirtschaft entstehen die größten Schäden und der größte Energieverbrauch oftmals, bevor geerntet wird, der vieldiskutierte Transport der Produkte hat also eine vergleichsweise geringe Bedeutung.
Oft verbraucht der Weg zum Einkauf in den Supermarkt mehr Energie als der Transport eines Produktes. Daraus resultiert für ihn, dass dem Handel für Transformationsprozesse eine gestiegene Bedeutung zukommt. Zum Thema „Nachhaltigkeit“ von Produkten hat er eine erfrischend eindeutige Meinung: „Es kommt darauf an“(S. 132). Die ebenso umfangreiche Debatte um Herkunft entmystifiziert er. „Herkunft“ ist für ihn kein räumliches Prinzip, sondern Herkunft ist für ihn ein umfassender Produktions- und Handelszusammenhang (S. 109).
Stierand zeigt viele konkrete Beispiele von kommunaler Ernährungspolitik, aus Deutschland, aus Großbritannien, Brasilien und Kanada. Diese seien erste modellhafte Ansätze für ein „Food Lab Stadt“, das von der Kommune selbst verfolgt werden könne, von den kommerziellen Akteur_innen aus Produktion und Handel und selbstverständlich von der Zivilgesellschaft. Letztere können entweder bewusst konsumieren, oder, wie z.B. im urban gardening, selbst (wieder) produzieren.
Sein Buch bringt viele nützliche Zahlen, dokumentiert betriebswirtschaftliches Wissen und enthält an einzelnen Stellen Selbstironie. Es ist, und das will, da es aus einer 2008 abgegebenen Doktorarbeit entstanden ist, etwas heißen, an keiner Stelle langatmig: Es ist vielmehr ein gelungener, kluger Mix aus (internationaler) Forschung und den vielen Erfahrungen einer Praxis vor Ort.
Philipp Stierand bloggt unter www.speiseraeume.org.
Philipp Stierand: Speiseräume. Die Ernährungswende beginnt in der Stadt, oekom Verlag, München 2014, 224 Seiten, 19,95 EUR