Die Toten der Finanzkrise

Kolovrechtis, Insel Euböa
Für viele Menschen in Griechenland bedeutet die Finanz- und Wirtschaftskrise Verelendung. Allerdings bringt der kontinuierliche und systematische Abbau von Sozialleistungen und Grundversorgung auch Tote mit sich. Es fällt schwer, diese nicht als einkalkulierte Verluste der durch die Troika erzwungenen Strukturanpassungen zu sehen („Kollateralschäden“). Was wäre das aber anderes als Mord?

Aufgrund von Einsparungen des Personals und damit Bettenmangel in Krankenhäusern mussten bisher etwa 1.000 Menschen sterben.

Die Grippe-Pandemie gab den Anlass, dass der Staat in Bewegung kam und die Hälfte der 150 geschlossenen Betten in Betrieb genommen wurden, über welche das Land 2009 verfügte, und zwar hauptsächlich mit Ärzten und Pflegern mit Zeitverträgen. […] Es kam jedoch die Wirtschaftskrise, die Einstellungen und sogar die Einsetzung der Eingestellten kamen zum Stoppen, viele Verträge wurden nicht verlängert, ausgeschiedenes Personal wurde nicht ersetzt, und heute befinden uns wir dort, wo wir begannen (http://www.griechenland-blog.gr/gesundheitswesen/).

Auf connessioni precarie ist zu lesen, dass über 100.000 Unternehmen Pleite gemacht haben, 30% Arbeitslosigkeit in der gesamten Bevölkerung und mehr als 52% Jugendarbeitslosigkeit zu verzeichnen ist.

Telepolis schreibt:

Anders als vor der Krise sind die Konsequenzen für die Betroffenen heute fatal. Während sie bisher bis zu einem Jahr Arbeitslosenunterstützung bekamen und damit auch krankenversichert waren und selbst danach auch unversichert weiter versorgt wurden, stehen sie heute vor verschlossenen Türen. Im Extremfall führt das dazu, dass zum Beispiel Krebspatienten sich selbst überlassen werden. Die US-Zeitung schildert einige dramatische Fälle. „In Greece right now, to be unemployed means death“, zitiert das Blatt einen Krebsfacharzt.

In der Berliner Zeitung vom 14.11.2012 schreibt Simon Heinrich, dass der Überlebenskampf auf der Strasse mittlerweile unfassbare Phänomene hervorbringt:

Schuld ist wie so oft die Krise. Bis vor zwei Jahren hatte der griechische Staat Obdachlosen 500 Euro im Monat gezahlt. Zusammen mit den Einnahmen aus Drogenverkauf, Prostitution und erbettelten Almosen kamen die Junkies damit über die Runden. 2010 wurde die Unterstützung gestrichen. […] Aber bald sprach sich herum, dass es eine lohnenswerte Alternative gibt, bei der die Abhängigen eine lebenslange Unterstützung von 700 Euro im Monat bekommen, krankenversichert sind […]. Um diese Unterstützung zu bekommen, muss man HIV-positiv sein.

2010 waren lediglich 2,5% der HIV-Infektionen drogenabhängig. Bereits 2011 waren es 25%. Im selben Artikel ist zu lesen, dass auch Prostituierte diesen Weg immer öfter beschreiten. Potentielle Kunden haben seit der Krise weniger Geld. Und kurz vor dem Wahlkampf haben Politiker Prostituierte im Fernsehen denunziert, die HIV-positiv sind. Jetzt erfüllt sich die Verunglimpfung in vielen Fällen: Prostituierte müssen sich zu Preisen anbieten, die vor kurzer Zeit noch undenkbar waren und „sichern“ sich über die HIV-Unterstützung ab.

Was früher als sicheres Todesurteil galt, wird heute als Rettung empfunden

bilanziert die Berliner Zeitung.

Marmor, Athen
foto cc: Pascal Mages
Andere bringen sich lieber gleich um. Eine Bildergalerie im Magazin der Süddeutschen Zeitung mit wunderschönen Aufnahmen griechischer Traumstrände montiert die Aufnahmen gegen die Geschichten derjenigen, die sich an diesen Stränden in den vergangenen Monaten das Leben genommen haben.

Im Jahr 2008 nahmen sich in Griechenland knapp 300 Menschen das Leben. Laut der Weltgesundheitsorganisation hatte Griechenland damals die niedrigste Selbstmordrate in Europa. Doch seit Beginn der Krise hat sich diese Zahl mehr als verdreifacht. Schätzungen der Hilfsorganisation Klimaka gehen davon aus, dass sich seit Anfang 2010 weit mehr als 2000 Griechen das Leben genommen haben. Quelle Süddeutsche Zeitung Magazin

Diese statistischen Werte dürften noch eher niedriger liegen als die tatsäche Anzahl der Selbstmorde, denn die Kirche beerdigt keine Suizidopfer. Viele Familien machen den Selbstmord eines Verwandten zum Unfall, viele Dorfpolizisten helfen dabei.

2 Responses to “Die Toten der Finanzkrise”

  1. Markus,

    Telepolis schreibt:

    Wegen Selbstmorden bei Räumungen war der Druck der Öffentlichkeit enorm gestiegen. Trotz allem wird weiter geräumt und auch die Zahl der Selbstmorde steigt. Am Montag wurde bekannt, dass sich allein im südspanischen Malaga am Donnerstag und Freitag zwei von Räumung betroffene Menschen in den Tod gestürzt haben. Die Hilfsorganisation „Stopp Zwangsräumungen“ (Stop Desahucios) schätzt, dass mehr als 100 Menschen vor oder nach ihrer Räumung in den Freitod getrieben wurden. In der Provinz Rioja konnte die „Plattform der Hypothekenbetroffenen“ (PAH) am vergangenen Donnerstag einen solchen Selbstmord verhindern.

  2. Stefan Wehmeier,

    Kollektive Dummheit

    „Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch -, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht.
    Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. Niemals werden wir mehr versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen; es ist sinnlos und gefährlich.
    …Soviel ist sicher, daß sie (die Dummheit) nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist. Es gibt intellektuell außerordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm sind. …Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, daß die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als daß unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden, bzw. sich dumm machen lassen.
    …Daß der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, daß man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem eigenen Wesen mißbraucht, mißhandelt. So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen.“

    („Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit“, 1943)

    Die Ursache der gegenwärtigen „Finanzkrise“ ist aus heutiger Sicht so primitiv und die einzige Lösung in rein technischer Hinsicht so einfach, dass man als selbständig denkender Mensch geneigt ist, den „Verantwortlichen“ Boshaftigkeit zu unterstellen. Doch das ist ein Irrtum. Die „hohe Politik“ ist des selbständigen Denkens unfähig und weiß wirklich nicht, was sie tut. Sie ist für ihre hoffnungslos naiven Handlungen nicht verantwortlich.

    Hätte sich Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) die Ursache der Dummheit bewusst machen können, wäre er kein Theologe mehr gewesen. Denn es ist die Religion, die den Kulturmenschen verdummt, damit er in einer noch fehlerhaften Makroökonomie, die Massenarmut, Umweltzerstörung und Krieg – und letztlich den Untergang der Kultur – unvermeidlich macht, die „Mutter aller Zivilisationsprobleme“ bis zum eigentlichen Beginn der menschlichen Zivilisation nicht sieht und auch gar nicht erst sehen will.

    http://www.juengstes-gericht.net

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